Die endlose Kette des Lebens

Jüngst ist mir das zum ersten Mal passiert. Es war gegen Mitternacht, nach dem Spätdienst, auf einer Landstraße bei Mannersdorf.

Jüngst ist mir das zum ersten Mal passiert. Es war gegen Mitternacht, nach dem Spätdienst, auf einer Landstraße bei Mannersdorf. Ich war nüchtern und mit meinem Käfer moderat schnell unterwegs, da tauchte ein pelziger Kegel im Scheinwerferlicht auf. Es war nix mehr zu machen. Kurz spiegelte sich das Licht noch grell in zwei Äuglein, dann machte es „tock“ – ein dumpfer Schlag von Blech auf Pelz auf Knochen. Ich drehte um, fuhr im Schleichtempo zurück. Da lag das Fleischbündel auf dem Asphalt, die Beine zuckten noch ein wenig. Dann fuhr der Hase auch schon auf die Himmelswiese.

Es ist eigentlich gewaltig, wie viel Glück wir alle haben: Jedes Lebewesen, jeder Mensch ist Produkt von Vater und Mutter, diese ebenfalls von Vätern und Müttern und so fort. Jedem und jeder davon ist es gelungen, sich fortzupflanzen. Das war über die Äonen nicht selbstverständlich: Wie viele Milliarden müssen an Krankheit, Hunger, durch Unfall, Mord, Krieg gestorben sein, ohne selbst Leben zu schaffen? Jeder steht an der Spitze einer ununterbrochenen Schöpfungskette, die zwingend in die Untiefen des Zeitmeers reicht – weit vor Römern, Babyloniern, ja den Urmenschen selbst. Man kann keinen einzigen Vorfahren wegdenken, ohne nicht selbst zu verschwinden. Dieser Gedanke von der endlosen Kette macht mich schwindlig. Und ich werde nie wissen, ob ich jüngst eine beendet hab. (wg)

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2014)

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