Nur ein Märchen (1)

In einer fernen Stadt machte vor vielen Jahren eine wandernde Truppe hungriger Schauspieler Rast.

In einer fernen Stadt machte vor vielen Jahren eine wandernde Truppe hungriger Schauspieler Rast. So müde sie auch waren, die Erinnerung an die stolze Vergangenheit hielt alle aufrecht. Am 1. Jänner 1889 hatte ein Victor Adler die Wanderbühne ins Leben gerufen und sie unter kärglichen Bedingungen zu Ansehen und Publikumserfolgen geführt. Auch manche spätere Prinzipale erbrachten mit den Schauspielern große Leistungen, die Gagen wurden immer besser, manche Stars konnten sich schon einen eigenen Wagen samt Gaul und Familie leisten. Sogar mit Kutscher.

Doch nun, nach so vielen Jahren, schien das Repertoire aufgebraucht, die Truppe ausgelaugt, der Prinzipal ideenlos. Täglich musste er ins Kostüm mit Zylinder und Paletot schlüpfen, aber täglich verdross ihn dies mehr und mehr. Die Einnahmen gingen zurück, ebenso die Zuschauerzahlen. Unsicherheit bei der Truppe, die jahrelang Speis und Trank im Überfluss genossen hatte.

Und so taten sie sich insgeheim zusammen, um den Prinzipal ums Leben zu bringen. Listig. Man musste schon genau hinhören, wenn der Dickste in der Truppe tremolierte: „Personaldiskussionen, liebe Freunde, sind Gift für uns!“ Denn hinterrücks wiesen sie einander längst neue Rollen zu. Nur eines war noch unklar: Der Nachfolger war noch nicht ausgeknobelt. Morgen mehr dazu. (hws)

Reaktionen an: hans-werner.scheidl@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2015)

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