Beim roten Baum auf dem Friedhof

Er wirft Farbe ins Gemüt, der rote Baum
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Ich hab ihn oft gesehen, den großen, hageren, älteren Mann, auf dem Friedhof unserer niederösterreichischen Gemeinde am Südrand von Wien.

Ich hab ihn oft gesehen, den großen, hageren, älteren Mann, auf dem Friedhof unserer niederösterreichischen Gemeinde am Südrand von Wien – im neueren Teil, wo noch weite, unberührte Rasenflächen sind und der Tod noch viel Spielraum hat. Der Mann saß auf einer Bank neben dem Brunnen, wo man Gießkannen füllt, gleich neben dem Bäumchen, einer mittelgroßen Blutbuche, deren Rot vom Frühling bis in den Herbst so schön leuchtet, ich steh dort auch oft, um jemanden zu besuchen. In der kühleren Jahreszeit trug der Mann meist einen grauen Mantel, sonst nur einen schlichten Anzug, seltener Jeans und Sakko, er saß meist gebeugt oder fast lümmelnd da, mit leicht rotem Kopf, vielleicht vom Blutdruck, vielleicht vom Wein, und rauchte Zigaretten. Oft flüsterte er vor sich hin und schaute auf ein Grab, drei Meter entfernt. Auf dem Grabstein steht ein Frauenname, sie ging 2006. Ich sah ihn also oft, den rotgesichtigen grauen Mann, er rauchte und flüsterte. Wir redeten nie miteinander. An solchen Orten sind die Menschen von unsichtbaren, negativ geladenen Hohlkugeln aus Distanz umgeben, die einander abstoßen.

Irgendwann vor zwei, drei Jahren fiel mir auf, dass seit Längerem keiner mehr auf der Bank beim Bäumchen saß. Dafür stand wenig später ein zweiter Name auf besagtem Grabstein. Ein Männername. Und die unberührte Rasenfläche wird kleiner und kleiner. (wg)

Reaktionen an: wolfgang.greber@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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