Israel – eine zunehmend zerrissene Gesellschaft

Der Tod von vier Jugendlichen lässt einen hautnah die Qualen und Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft miterleben. Ein Augenschein.

Am Abend des 30.Juni sind auch in Tel Aviv die Cafés für Public Viewings der beiden WM-Fußballspiele vorbereitet. Wie in Wien und sonstwo auf der Welt versammelten sich jeweils riesige Mengen von Menschen, um gemeinsam den Matches zuzusehen.

Doch an diesem Abend bleiben die Cafés leer, die Übertragung der Spiele wird abgesagt, alle TV-Sender berichten vom Auffinden der Leichen der drei entführten israelischen Jugendlichen. Alle Menschen sind niedergeschlagen.

„Was sind das für Menschen, die unschuldige Kinder entführen und kaltblütig ermorden“, sagt ein israelischer Anwalt kopfschüttelnd in einer Gesprächsrunde. Die Wut in Israel ist gewaltig.

Doch schon in den Tagen davor, als das israelische Militär mit Hochdruck und aller Härte die Gegend um Hebron, wo die drei Burschen entführt worden waren, durchkämmte, erhoben sich auch kritische Stimmen in Israel.

Dass die Jugendlichen in der überwiegend palästinensischen Westbank per Autostopp unterwegs waren und dies trotz zahlreicher und dringender Warnungen vor Entführungen, empfanden viele Israelis als unverantwortlich seitens der Eltern.

An den Tagen nach dem 30. Juni, als die Leichen der drei ermordeten israelischen Jugendlichen entdeckt worden waren, gingen die Emotionen in Israel hoch. So fremd einander die Siedler und die „normalen“ Israelis im Laufe der Jahre geworden sind – jetzt fühlten alle als Eltern mit.

Viele Politiker, Kommentatoren und Leute auf der Straße riefen nach Vergeltung. Es brauchte nicht viel, und schon nahmen jüdische Extremisten das Gesetz des Handelns in ihre Hand und entführten und ermordeten ihrerseits einen palästinensischen Jugendlichen.

Doch auch in dieser aufgeheizten Stimmung funktionierten die israelische Demokratie und die Achtung des Rechtsstaates sofort wieder. Vom Staatspräsidenten und dem Premierminister abwärts verurteilten alle jedwede Racheakte.

Rachel Fraenkel, die Mutter eines der ermordeten Talmudschüler fand mutige und klare Worte und bezeichnete die Tat als schrecklichen und schockierenden Akt: „Es gibt keinen Unterschied zwischen Blut und Blut. Mord ist Mord. Es gibt keine Rechtfertigung, keine Entschuldigung, keine Sühne für Mord.“

Die Geschehnisse der letzten Wochen zeigen jedoch die immer größer werdende Kluft in der israelischen Gesellschaft auf. Auf der einen Seite steht das rechte, national-religiöse Lager, das von der Idee beseelt ist, das historische und von Gott den Juden versprochene Land Israel zu sichern.

Dieses dominiert heute bereits die Regierung und zunehmend auch die höheren Ränge des Militärs.

Auf der anderen Seite befinden sich jene Israelis, die eine Teilung des Landes mit den Palästinensern befürworten.

Eine politische Heimat für diese Israelis existiert praktisch nicht mehr. Sie sind zwischen alle Fronten geraten. Den Rechten gelten sie als Vaterlandsverräter, und die Palästinenser und Araber sind bei Weitem nicht ausreichend verlässliche Partner, um ein überzeugendes Modell von Frieden und Sicherheit präsentieren zu können.

Diese Israelis reagieren mit einer stark depressiven Stimmung, denn sie erkennen die problematischen Entwicklungen in Israel, sie besitzen aber weder das politische Gewicht noch die überzeugenden Ideen, wie eine Lösung herbeigeführt werden kann.

Nicht wenige von ihnen gehen daher in eine innere Emigration – ziehen sich also vom politischen Leben zurück. Oder sie wählen eine äußere Emigration – und wandern in die Vereinigten Staaten oder nach Europa aus.

Avraham Burg, eine der wenigen verbliebenen Friedenstauben, schreibt auch entsprechend desillusioniert: „Wahrscheinlich müssen wir auf die nächste Generation warten, um das zu erreichen, bei dem unsere Eltern und wir total versagt haben.“

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, Geschäftsführer der Wiener Psychoanalytischen Akademie,
geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group sowie
Mitherausgeber des jüdischen Magazins „NU“.
www.nunu.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2014)

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