Worüber nicht geredet wird: Flugtauglichkeit ist relativ

Reisende legen ihr Leben vertrauensvoll in die Hände der Piloten. Gefahren aus dem Cockpit? Unvorstellbar. Seit dem 24. März ist nichts mehr, wie es vorher war.

Die „Washington Post“ brachte es in der Vorwoche auf den Punkt: Nach der Tragödie des Flugs 9525 der Lufthansa-Tochter Germanwings fehlt in Deutschland die Suche nach Fehlern und Verantwortung. Wollen die Deutschen wirklich nicht wissen, was schiefgelaufen ist? Die Frage ist mehr als berechtigt. Laut „Washington Post“ wäre in den USA nach einem solchen Unglück Rechenschaft von Ärzten, Fluglinie, Ämtern eingefordert worden.

Es ist schon seltsam, dass in Deutschland und Österreich mehr über die Art der Berichterstattung als über die Vorgeschichte oder das Verhalten der Lufthansa-Führung nach dem Absturz diskutiert wurde. Eigentlich hätte man nach deren spätem Eingeständnis, sehr wohl über die Suizidtendenzen des Kopiloten Andreas L. informiert gewesen zu sein, eine Meldung an das Luftfahrtsamt darüber aber unterlassen zu haben, einen Aufschrei erwarten können. Aber nichts davon!

Ob die Deutschen die Realität nicht zur Kenntnis nehmen, sich in ihrem Vertrauen in all die ohnehin vorhandenen Regeln und vor allem in die Lufthansa selbst nicht erschüttern lassen wollen, ist ihre Sache. Die Lufthansa ist aber die Mutter der AUA. Und daher ist es auch in Österreich von Interesse, warum die Fluglinie tagelang behaupten konnte, sie sei nicht informiert gewesen – nur um schließlich doch mit der Wahrheit herauszurücken.

Das wäre schon eigenartig genug gewesen, hätte Lufthansa-Chef Carsten Spohr, der so viel Gelobte, nicht bei seiner Pressekonferenz am 25. März auch noch ausdrücklich festgestellt, der Kopilot L. sei „zu 100 Prozent“ flugtauglich gewesen, es habe keine Vermerke, Auflagen oder Einschränkungen gegeben. Das war nicht nur „merkwürdig“, wie die deutsche Zeitung „Tagesspiegel“ befand. Das könnte Meldungen zufolge auch unwahr sein, zumal es einen entsprechenden Vermerk gegeben haben soll.
Zum Zeitpunkt der Pressekonferenz war die frühere Selbstmordgefährdung des Kopiloten der Airline schon bekannt. Auch „Der Tagesspiegel“ findet: „Fast scheint es so, als wolle weder die Lufthansa noch die deutsche Gesellschaft wirklich wahrhaben, was am Himmel über den französischen Alpen passiert ist.“

Das könnte fast ein Stück aus Österreich sein: verleugnen, verdrängen, vergessen. Und nun zur Tagesordnung! Gut, die meldepflichtige depressive Episode des Piloten war in der Zeit vor Spohr; er ist seit Februar 2014 Airline-Chef. Für die „merkwürdigen“ Aussagen nach dem Absturz müsste er aber die Verantwortung übernehmen. Und zurücktreten. Nicht aus rechtlichen Gründen. Aus Anstand! Wie ist das nun mit dem Vertrauen in die absolute Sicherheit der Lufthansa?

Wirklich schlimm aber wäre, wenn die Befürchtungen des „Tagesspiegel“ wahr werden: Dass nämlich aus einem „überkommenen Standesbewusstsein“ heraus und vor lauter Stolz auf die nationale Fluglinie mit ihrem bis jetzt geradezu perfekten Sicherheitsimage die Konsequenzen aus der Katastrophe ausbleiben: Dass Piloten eben nicht mehr ihre Ärzte selbst aussuchen können, die dann eigenständig über Meldung oder nicht an die Flugaufsicht entscheiden können; dass psychologische Eignungstests auch nach Erlangen des Pilotenscheins im Zuge der ärztlichen Kontrolle regelmäßig vorgenommen werden.

Erst Anfang der Woche kam es in einem indischen Jet zu einer Schlägerei zwischen den Piloten. Und vor zwei Monaten schrieb der niederländische Pilot Jan Cocheret laut „Kleiner Zeitung“: „Ich frage mich manchmal, wer da neben mir sitzt.“ Vor Jahren musste man sich in Österreich fragen, wie ein österreichischer Pilot mit einem schweren Nierenleiden flugtauglich sein kann.

Alles ist eben relativ – und eine Frage des ärztlichen Attests und wahrscheinlich der persönlichen Beziehungen. Eine Reform des medizinischen Kontrollsystems für Piloten gäbe dem Absturz des Flugs 9525 zwar nachträglich auch keinen Sinn. Aber sie wäre wenigstens die wichtigste Konsequenz daraus.

Zur Autorin

Anneliese Rohrer ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2015)

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