Unsere christliche Leitkultur

Die moderne Demokratie benötigt Wertestifter, sonst zerfällt die Gemeinschaft.

Beginnt's in Linz? Dort ist ein weltanschaulicher Streit aufgeflammt: Dürfen in öffentlichen Einrichtungen christliche Symbole an der Wand hängen? Stört das Kruzifix in Schulen und Kindergärten die Religionsfreiheit? Ist das Landesgesetz mit der Pflicht zum Anbringen von Kreuzen in Erziehungsräumen, wenn die Mehrzahl der Kinder christlichen Glaubens ist, verfassungswidrig? Bricht wieder ein Kulturkampf auf? Los von Rom! Fort mit dem Staatskirchentum! Religion ist Privatsache! Eine Leitkultur, gar eine christliche, gibt es nicht, brauchen wir nicht, fort damit!

Der Sonderweg Europas über die Jahrtausende war vom Christentum gestaltet – Michael Mitterauer, der Wiener Gelehrte, hat in dem Werk „Warum Europa“ die mittelalterlichen katholischen Grundlagen dieses Sonderwegs nachgewiesen. Die Säkularisierung im 20. Jh. bewirkte dann die Trennung von Kirche und Staat, die Herstellung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und auch die Entkirchlichung der Gesellschaft.

Dennoch finden wir uns heute in einer postsäkularen Gesellschaft. Jürgen Habermas machte es unlängst deutlich: „In diesen Gesellschaften behauptet die Religion eine öffentliche Bedeutung, während die säkularistische Gewissheit, dass die Religion im Zuge einer beschleunigten Modernisierung weltweit verschwinden wird, an Boden verliert.“ So wird die Säkularisierung auch bei uns zur Episode. Warum? Weil Leben ohne Religion unvorstellbar ist. „Die gemeinschaftsbildenden Kräfte der europäischen Glaubensgemeinschaften sollen unterstützt und zum Zusammenhalt des neuen Europas genützt werden“ – so eine Kernaussage jener „Weisen“, die im Auftrag der EU zu prüfen hatten, was nun Europa, die Gesellschaft zusammenhalte. Wir wissen ja schon lange, dass die moderne Demokratie Wertestifter benötigt, da sonst die Gemeinschaft zerfällt. Die wichtigsten neben Familie und Bürgergesellschaft sind die Religionsgemeinschaften. Wohlgemerkt: nicht nur die Christen! Auch der Islam gehört dazu. Den Rahmen zu schaffen für ein Zusammenwirken in der Vielfalt, ist Aufgabe unserer Zeit. Daher sind die Kruzifixe wichtig. In Berlin läuft gerade ein Volksbegehren: „Für die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion“. Die Zerfallserscheinungen einer Gesellschaft ohne Gott als Erbe der DDR sollen so bekämpft werden. In Österreich erlebten wir jüngst kräftige Lebensbeweise unserer Leitkultur. Zwei Trauerfeiern für öffentliche Personen, die nicht ohne Bischof auskamen: Staatstrauer ist immer vom Gottesdienst begleitet, den in Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags das Staatsfernsehen ausstrahlt... Der eine Verstorbene ein öffentlich bekennender Freimaurer, der andere Spitzenmann jener freiheitlichen Partei, die tief im Antiklerikalismus wurzelt.

Die christliche Leitkultur prägt Österreich, prägt Europa, in unserer postsäkularen Gesellschaft.

Univ.-Prof. Andreas Khol war Nationalratspräsident.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.