Ungarn, Sündenfall der Verharmlosung: Warum Wien nicht wegschauen darf

Im Nachbarzimmer des gemeinsamen EU-Hauses kann Österreich beobachten, wie schnell Demokratie auch heute noch ausgehöhlt werden kann. Umfragen zeigen, wie anfällig auch wir dafür sind.

Zufällig oder symbolträchtig? Das ist jetzt die Frage. Am Nationalfeiertag Ungarns mussten gestern, Freitag, alle Feiern im Gedenken an den Kampf um Freiheit 1848 und auch alle Demonstrationen im Kampf um die heutigen Freiheiten wegen Schneechaos abgesagt werden.
Zufällig, weil eben noch Winter ist. Symbolträchtig, weil die jüngsten Entwicklungen in Österreichs Nachbarland zeigen, wie wenig gefestigt unter bestimmten Bedingungen die Demokratie auch innerhalb der EU sein kann, um wie viel aufmerksamer und sensibler die EU einzelne Schritte ihrer Mitgliedstaaten in Richtung Postdemokratie und/oder autoritäre Verfasstheit beobachten sollte.

Es sind nicht die einzelnen Maßnahmen in Ungarn allein, die aufs Äußerste beunruhigen sollten. Es ist die Summe aus Verfassungsänderungen, geplanten Verstaatlichungen, angedachten Enteignungen und vor allem die leicht aufputschbare nationalistische Stimmung im Land, unverhohlener Antisemitismus inklusive.
Aber nicht nur das. Es wird in Brüssel und anderswo weggeschaut, verharmlost und verniedlicht, so lange, bis der brutale Einsatz der Zweidrittelmehrheit im Parlament bagatellisiert und Ministerpräsident Viktor Orbán nicht ganz ernst genommen wird. So nach dem bekannten Motto: Es wird schon nicht so schlimm kommen.
Besonders Österreich hätte allen Grund alarmiert zu sein. Die demokratiepolitische Standfestigkeit der Österreicher zeigt seit Langem Muskelschwäche, die in guten Zeiten unbemerkt bleibt, in schlechten aber einknicken könnte. Erst jüngst hat eine Umfrage erhoben, dass sechs von zehn Österreichern Sehnsucht nach einem „starken Mann“ haben.

Diese Zahl zusammen mit jenen der Wertestudie 2010 sind alarmierend: 25 Prozent hätten nichts gegen ein autoritäres Regime. Überdies gehen die Parteien mit freundlicher Unterstützung durch eine indifferente Bevölkerung auch in Österreich mit der Bundesverfassung nicht zimperlich um. Stichwort: Verfassungsbruch beim Budget 2010 und Tricks, um bestimmte Gesetze dem Urteil des Höchstgerichts zu entziehen.


Daraus aber abzuleiten, Österreich habe kein Recht, sich um Ungarn zu kümmern, wie dies Christian Ortner in seinem gestrigen „Quergeschrieben“ getan hat, kann nur dem (Mut-)Willen zur Verharmlosung entspringen. Denn hierzulande hat der Verfassungsgerichtshof 2001 sehr wohl der bis dahin zweifelhaften Praxis mit einem entsprechenden Urteil ein Ende bereitet. „Presse“-Rechtsexperte Benedikt Kommenda schrieb: „Die Abgeordneten sind nun gewarnt – selbst alle zusammen können sie nicht den Rechtsstaat aushebeln.“
Die Gefahr, für die alle demokratiepolitischen Sinne geschärft werden müssten, entspringt der Beschönigung gewisser Vor- und Anzeichen. Bezeichnend, dass ausgerechnet EU-Justizkommissarin Viviane Reding jetzt wegen Ungarn die Stirn in Sorgenfalten legt. Als es vor etwa zehn Jahren um Einschränkungen der Medienfreiheit in Italien ging, reagierte sie auf Fragen nach der Untätigkeit der EU unpassend gereizt. Die Kommission könne gar nichts machen, man möge doch einen Journalisten finden, der Silvio Berlusconi klage. Wäre Reding damals aktiv geworden, hätte sich Italien einiges erspart.

Aber ist die EU dazu da, Mitgliedstaaten in bestimmten Situationen vor sich selbst zu retten? Eindeutig ja, bevor die Verharmlosung so weit fortgeschritten ist, dass gar nicht mehr demonstriert werden kann – Schnee hin oder her.


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Zur Autorin:

Anneliese Rohrer ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse.com/blog/rohrer

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