Das schale Wort vom „Nie wieder!“ Kobane und keine Humanität

Nach jedem Massaker werden heilige Eide geschworen, es nicht mehr zuzulassen. Jetzt aber fehlt wieder öffentlicher Druck für eine humanitäre Intervention.

Hält die Welt angesichts eines neuen Massakers wieder fest die Augen verschlossen? Wie im April 1994 in Ruanda, wie ein Jahr später in Srebrenica, nur um einige Beispiele herauszugreifen? „Nie wieder!“ hat es nach dem Blutrausch der Hutu-Mehrheit – unter den Augen von UN-Friedenstruppen übrigens – geheißen. „Nie wieder!“ auch nach dem Massaker in Bosnien – wieder unter den Augen eines UN-Blauhelm-Kontingents.

Wie wertlos diese Worte geworden sind. Wieder starrt die Welt seit drei Wochen mit geschlossenen Augen auf die nordsyrische Kurdenstadt Kobane und verfolgt mit angehaltenem Atem die Veränderungen der Belagerung durch den Islamischen Staat. Alle erwarten ein Gemetzel an den Kurden, und alle geben sich ratlos. Die Welt scheint wie paralysiert durch ihre einander widersprechenden Interessen – nur für das Recht auf Leben der Kurden scheint sich niemand zu interessieren.

„Nie wieder!“ Barbarei? Die Belagerung von Kobane hat etwas ungeheuer Mittelalterliches an sich. Der Kontrast zur affinierten Technologie der Rüstungsindustrie weltweit ist geradezu gespenstisch. Aber diese steht den Verteidigern ja nicht zur Verfügung. Die Bilder, die um die Welt gehen, vermitteln den Eindruck, als stünde die Welt wenige Kilometer entfernt und beobachte über die sandige Ebene hin den Einmarsch der „Eroberer“ in die Stadt. Mehr nicht.

Wie wertlos ist das Bekenntnis, „nie wieder“ eine rechtzeitige humanitäre Intervention zu versäumen, geworden! Die Kritik an der UNO, den USA und Großbritannien wegen ihrer Untätigkeit in Ruanda ist entweder in Vergessenheit geraten oder verdrängt worden. Die richtigen Schlüsse daraus haben weder die Vereinten Nationen noch die Nato-Staaten Amerika und Großbritannien gezogen.

Ein Jahr später, aber erst nach der Ermordung von 8000 Bosniern durch die Armee der Republika Srpska, wurde der öffentliche Druck gegen die Grausamkeiten am Balkan so stark, dass sich die USA unter Bill Clinton zum Handeln gezwungen sahen. Und genau das ist der springende Punkt. Das „Nie wieder!“ verhallt ungehört, weil sich eben um Kobane und im Zusammenhang mit den Kurden kein öffentlicher internationaler Druck in einer Stärke aufbaut, der die Regierungen zu humanitärer Intervention bewegt.

Europa ist in Tiefschlaf gefallen. Da mutet es geradezu putzig an, wenn der außenpolitische Ausschuss des österreichischen Nationalrats am Donnerstag Außenminister Sebastian Kurz auffordert: Er möge sich dafür einsetzen, „dass zur Vermeidung einer humanitären Katastrophe die Versorgung und die Selbstverteidigung der Stadt Kobane ermöglicht werden“. Die SPÖ war ganz stolz, den Antrag ein- und durchgebracht haben. Wenigstens etwas.

Nur, wo und wie soll sich Österreich einsetzen? In der EU kann es seine Stimme erheben, aber diese hat keine militärischen Mittel. Und die Führer der IS an den Verhandlungstisch zu bringen, wird ja wohl keine ernst gemeinte Aufforderung sein, oder? Innerhalb der Nato hat Österreich als Nicht-Mitglied nichts zu reden. Was also soll Österreich via Außenamt tun? Augenauswischerei nennt man solche Aktionen normalerweise.

Kann es wirklich sein, dass wir mit einer gewissen Angstlust und Faszination für das Schaurige zuschauen und keine Ideen mehr für genügend öffentlichen Druck auf die betroffenen demokratischen Regierungen haben? Die Türkei will nicht wegen der Kurden, die Nato will nicht wegen des Mitglieds Türkei und aus Angst vor den Beistandsbestimmungen des Nato-Vertrages, die Luftangriffe der USA scheitern am mittelalterlichen Fanatismus der Angreifer.

Und die Zivilgesellschaften des Westens haben ihre Verpflichtung zum „Nie wieder!“ vergessen. Wegen des Islam, wegen der Terrorgefahr, wegen der Bedrohung. „Während die Welt schlief“, heißt der Roman von Susan Abulhawa über die humanitären Katastrophen in Nahost. Eben. Schon wieder, statt nie wieder.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2014)

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