Denkt keiner bei SPÖ und ÖVP nach, bevor er den Mund aufmacht?

Sollte diese Regierung am Ende sein, müsste Heinz Fischer sie entlassen und Experten einsetzen. Alles andere wäre angesichts der Probleme verantwortungslos.

Die einen sprechen von fehlender Strategie, die anderen von einer zerrütteten rot-schwarzen Koalitionsehe, wieder andere von schlechter Kommunikation. In Wahrheit aber drängt sich nicht erst seit dem Debakel für ÖVP und SPÖ bei der Landtagswahl in Oberösterreich vor einer Woche, aber seither besonders nachdrücklich, die Frage auf: Denkt denn niemand an der Regierungsspitze nach, bevor er in der Öffentlichkeit den Mund aufmacht? Denkt denn keiner die Dinge zu Ende, bevor er redet?

Anders sind zum Beispiel die Aussagen von Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner diese Woche nicht mehr zu erklären. Das Sammelsurium an eigenartigen Bildern vom „untätigen Passagier auf einem schicksalhaften Weg“, der nicht auch noch die „andere Wange“ hinhalten möchte, sollte man nicht so eng sehen. Obwohl: Wer zwingt denn Mitterlehner zur Untätigkeit?

Allgemein aber wurde das, was Mitterlehner so von sich gab, als Drohung, die Koalition mit der SPÖ zu beenden, aufgefasst, wenn auch nicht ernst genommen, offenbar nicht einmal von ihm selbst. Wozu dann also? Haben weder Mitterlehner noch seine „Berater“, die Sache zu Ende gedacht? „Es reicht“ ihr schon wieder? Wie? War der gleiche Versuch Molterers 2008 ein brüllender Erfolg?

Bemerkenswerter Abbau von Frustration der Funktionäre und des ÖVP-Chefs? Wohl auch nicht. Zwei von Mitterlehners Vorgängern haben das auch schon gemacht, und es hat der Partei nicht geholfen. Einen Überraschungscoup landen mit einem Wahlkampf in einer Situation, die für Österreich wirtschaftlich, sozial, international die größte Herausforderung seit Langem darstellt? Noch mehr Unsicherheit als Verlässlichkeit verkaufen wollen? Ernsthaft?

Wie verantwortungslos wäre denn das? Wer immer Mitterlehner eingeredet hat, mit der öffentlichen Schaustellung seines Widerwillen könne er punkten, müsste sofort entlassen werden. Mitterlehner selbst kann's nicht gewesen sein. So dilettantisch kann sich niemand verhalten, der seit Ewigkeiten im politischen Bereich arbeitet und seit sieben Jahren Minister ist. Er hätte nicht nur sich selbst, sondern auch seine Partei, die Regierung, die Glaubwürdigkeit der Politik und viel mehr beschädigt.

Gleiches gilt allerdings auch für Werner Faymanns öffentliche Kritik am ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Wer einen Nazi-Vergleich in den Mund nimmt, muss wissen, was er damit auslöst – Schaden für die Beziehungen zum Nachbarland, Schaden für sich selbst durch eine weitaus raffiniertere Retourkutsche Orbáns, Schaden für die in der derzeitigen Flüchtlingssituation unverzichtbare Zusammenarbeit. Denken vor Reden geht nicht?

Ein ganz schlimmes Beispiel aber gab diese Woche in der „ZIB 2“ der Bundesgeschäftsführer der SPÖ, Gerhard Schmid, ab. Sein inkohärentes Gestammel bewies, dass er sich nicht überlegt hat, wie er was zu sagen hat. Hat keiner in der SPÖ bisher den Mangel an öffentlicher Artikulationsfähigkeit bemerkt? Der Schaden ist deshalb so groß, weil von einem 55-jährigen Parteifunktionär routiniertes Auftreten zu erwarten gewesen wäre.

Man muss sich nur so richtig vor Augen führen, in welcher Situation Österreichs dieser Wortmüll in den letzten Tagen über das Land gekippt wurde: Die Arbeitslosigkeit steigt und steigt und steigt; die Wirtschaft fällt in den Rankings weiter zurück; die Flüchtlingskrise kann sich wieder verschärfen, ist ohnehin noch lange nicht bewältigt; Bildung, Gesundheit, Verwaltung gehören reformiert, die Rechnung für die Hypo Alpe Adria muss bezahlt, das Budget korrigiert werden – und all das in einem wirklich beunruhigenden internationalen Umfeld.

Sollte die langjährige Todessehnsucht der ÖVP just jetzt ihren Höhepunkt erreichen, muss Bundespräsident Heinz Fischer diese Koalition entlassen, ein Expertenkabinett berufen. Eine handlungsunfähige Regierung plus Neuwahlhysterie ist in dieser Situation nicht zumutbar.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)

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