Wie viel Verwirrung und Hysterie (v)erträgt die Demokratie?

Die labile Republik: Völlig überzogene Aufregung um eine ORF-Sendung, unhaltbare Argumente, cholerische Reaktionen auf Vorschläge.

Den Reaktionen auf das ORF-„Bürgerforum“ zum Thema Flüchtlinge nach zu schließen, könnte man glauben, es sei am Dienstag im Wiener Odeon-Theater zu Raufereien gekommen, die einzelnen Sektoren seien wie bei einem Fußballspiel aufeinander losgegangen. Nichts von all dem. Undiszipliniert, ja! Unartikuliert, manchmal. Uninteressant, auch das mitunter.

Nicht einmal die paar Sätze eines Vertreters der bekannt rechtsextremen Identitären rechtfertigen die Aufregung. Sie waren einfach dumm, weil unrichtig. Die Regierung in Wien soll verantwortlich für die Anschläge in Paris durch in Frankreich geborene Terroristen sein? Weder Moderator Peter Resetarits noch irgendwem anderen war das eine Reaktion wert. Die Sätze richteten sich selbst.

Hinter der ganzen Aufregung (und der Zusammensetzung der Sendung selbst auch) kann man eine versteckte Agenda vermuten. Dem Vernehmen nach geschieht ja im staatseigenen Leitmedium (Selbstdefinition) nichts mehr, was nicht irgendwie im Zusammenhang mit der Wiederwahl von Alexander Wrabetz zum ORF-Generaldirektor im August zu sehen ist. Da könnte ein Signal in den rechten Sektor schon hilfreich sein, wird gemutmaßt.

Allein, das ist ebenso kleinkariert wie in der jetzigen angespannten politischen Situation unwichtig. Die ORF-Sendung als solche und die nachträgliche Erregung zeigen nämlich, wie weit die Verwirrung in den Köpfen schon vorangeschritten ist – nicht nur bei rechtsextremen Wirrköpfen, gerüchtegläubigen und faktenresistenten Sturköpfen, sondern generell.

Man denke nur an den Vorschlag von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner diese Woche zu Hausarrest und Fußfesseln auf Verdacht für vermeintliche Radikale in der Islamistenszene – und an ihr Argument, diese Maßnahme sei doch in Frankreich rechtsstaatlich, das werde also wohl auch für Österreich gelten können. Sie verschweigt dabei, dass über Frankreich der Ausnahmezustand verhängt worden und dies deshalb zurzeit dort möglich ist. Haben wir in Österreich etwas versäumt? Stell dir vor, Mikl-Leitner verhängt den Ausnahmezustand und keiner hat's gemerkt. Nur dann wäre sie berechtigt, die rechtsstaatlichen Bedenken beiseitezuwischen.

Oder man denke an den Geistesblitz der Jungen ÖVP diese Woche, die Besserverdienende zwingen will, Sozialwohnungen für Flüchtlinge zu verlassen – und da vor allem den Grünen Peter Pilz in seiner Gemeindebauwohnung im Visier hat? Wie benebelt muss man im Kopf sein, um in einer Zeit, in der die öffentliche Stimmung gerade noch in der Balance zwischen Akzeptanz und Ablehnung gehalten werden kann, einen solchen Vorschlag der Delogierung zu machen? Über die Folgen könnte sich die JVP in Zeitungen in Deutschland informieren.

Jungpolitiker, die in der jetzigen Situation nicht mehr Fantasie zur Wohnraumbeschaffung für Asylanten aufbringen als Zwangsumsiedlungen, können Angst auslösen. Doch auch auf der linken Seite des Spektrums besteht Anlass zur Sorge.

Wenn bei jedem einzelnen Vorschlag zum besseren Management der Flüchtlingssituation reflexartig das Ende der Demokratie in Österreich beschworen und eine sachliche Diskussion verweigert wird, dann ist auch diese Hysterie brandgefährlich. Man kann so lange „Feuer!“ schreien, bis niemand dann den Brand ernst nimmt.

Nein, nicht jede Maßnahme ist gleich ein Schritt näher zum Ende der Demokratie. Ja, diese ist in Österreich vielleicht gefährdeter, als wir glauben wollen. Der Prozentsatz jener, die nichts gegen ein autoritäres Regime hätten, ist wesentlich höher als der Durchschnitt in der EU.

Das heißt, wir müssen sorgfältiger mit der spannungsgeladenen Situation umgehen, vorsichtiger mit der Wortwahl, gelassener mit Differenzen. In Summe also demokratisch reifer. Auf allen Seiten. Sonst machen wir uns mitschuldig an Konsequenzen der Krise jetzt, die später wieder einmal keiner gewollt haben will.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.