Flüchtlinge, Griss, Van der Bellen: Die Zivilgesellschaft ist aufgewacht

Das Engagement vieler Normalbürger hat Irmgard Griss zu sensationellen 18,9 Prozent der Stimmen verholfen.
Das Engagement vieler Normalbürger hat Irmgard Griss zu sensationellen 18,9 Prozent der Stimmen verholfen. (c) APA/HANS KLAUS TECHT (HANS KLAUS TECHT)
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Innerhalb von neun Monaten wurde dreimal der Beweis geliefert, dass sich Engagement lohnt. Jetzt darf es nur keinen Rückfall in die alte Apathie geben.

Seit 1981, also seit Reinhard Fendrichs „Schickeria“-Song („Mir san die Hautevolee“) war die „feine Gesellschaft“ nie mehr so häufig in aller Munde wie in dem abgelaufenen Wahlkampf um das Präsidentenamt. Und auch selten so ernsthaft als Schimpfwort gemeint wie dieses Mal. Damit wollte die FPÖ offenbar einen Keil zwischen der vermeintlichen Oberschicht für Alexander Van der Bellen und den „Menschen“ für Norbert Hofer treiben.

Wenn diese Zuordnung irgendeinen Sinn gehabt hätte, dann war das Wahlergebnis eine ganz große Überraschung. Denn dann wäre diese Hautevolee auch in den Arbeiterbezirken Floridsdorf, Favoriten, Donaustadt und in der „blauen“ Stadt Wels zu finden. Sie alle haben mehrheitlich Grün gewählt.

Aber das taugt eher für Kabaretteinlagen. Viel wichtiger: Es wird jetzt an der Zivilgesellschaft liegen, von der die „feine“ nur ein Teil ist, dass die Politisierung des Landes in den vergangenen Wochen und Monaten nicht wieder verebbt. Damit ist nicht eine wie immer geartete Parteipolitisierung gemeint.

Diese Zivilgesellschaft hat innerhalb eines Jahres sich selbst und allen anderen dreimal bewiesen, was alles bei ausreichend intensivem Engagement in der Politik möglich: In der Flüchtlingskrise des Sommers 2015 als Freiwillige die Regierung letzten Endes aus ihrer Lethargie gerissen haben; beim ersten Wahlgang zur Präsidentenwahl, als das Engagement vieler Normalbürger Irmgard Griss zu sensationellen 18,9 Prozent der Stimmen, quasi aus dem Nichts, verholfen hat und schließlich in den vergangenen Wochen, als die Unterstützung für Van der Bellen in einer Bewegung mündete, die ihn schließlich in die Hofburg bringen wird. Da sind nicht die Wahlaufrufe der Prominenten gemeint, von denen sicher einige auch kontraproduktiv waren, da ist das unauffällige Mitwirken Einzelner gemeint.

Dieses Momentum der Einmischung in die Politik – oder besser: in das Politische – darf nicht (ver)schwinden. Mit den genannten drei Erfolgen sollte endlich die starre Haltung, politisches Engagement sei ohnehin sinnlos, widerlegt, der Gegenbeweis angetreten werden können.

Es kann funktionieren. Wenn sich allerdings die bekannte Apathie wieder breitmacht; wenn die Bevölkerung wieder mehrheitlich den Politikern auf allen Ebenen – ob Bund, Land oder Gemeinde – bei ihrem Treiben nur zusieht, um sich dann in der Wahlzelle zu „rächen“, wird sich nichts ändern.

So seltsam es in manchen Ohren klingen mag: Die Verantwortung über das Schicksal der Politisierung liegt jetzt nicht bei den amtierenden Politikern, sie liegt bei der Gesellschaft im Gesamten. Wenn sich wieder der alte Trott einschleicht, dann kann niemand mehr die Schuld nur den Funktionsträgern zuschieben. Dann sind alle verantwortlich und müssen die politische Führung ertragen.

Die vergangenen Monate haben bewiesen, was möglich ist und sein kann. Wenn die Zivilgesellschaft diese Chance nicht nützt, hat sie die Berechtigung zur Politikverachtung verwirkt – und sei diese auch noch so populär.

Es kann sich doch jeder mit etwas freier zeitlicher Kapazität ein Projekt aussuchen, für das sich der Einsatz für ihn persönlich auch wirklich lohnt. Es kann doch nicht so sein, dass in Österreich zwar Millionen an Freiwilligenstunden für Musikkapellen etc. zur Verfügung gestellt werden, aber bis jetzt kaum welche für das Politische an sich.

Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) hatte vor ein paar Tagen völlig recht, als er (nicht zum ersten Mal) meinte, die Politik müsse Betroffene zu Beteiligten machen. Er hat es zwar nicht in dem Kontext der Einmischung in die eigenen Angelegenheiten gemeint, aber das Sprachbild ist korrekt. Betroffen sind alle, beteiligen müssen sie sich selbst.

Die positive Erzählung für Österreich, von der in der Regierung jetzt so oft die Rede ist, muss von der Zivilgesellschaft fortgeschrieben werden, ob vom „feinen“ oder jedem anderen Teil. Die Erfolge des vergangenen Jahres sind der Prolog.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

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