Schlafwandeln in den USA, sorgloses Träumen in Europa

Warum die westliche Welt in die nächste Katastrophe stolpern könnte. Und warum niemand – auch in Österreich – glauben soll, es ginge ihn nichts an.

Keine Steuern zahlen? Das heißt, ich bin schlau. Geleistete Arbeit nicht bezahlen? Das heißt, ich reize Gesetze aus. Vom Unglück anderer in der Krise profitieren? Das nennt man Geschäfte machen. Sinngemäß übersetzt waren das die Kernsätze des Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, Donald Trump, vergangenen Montag in der ersten TV-Konfrontation mit Hillary Clinton vor 100 Millionen Zusehern.

Keine Steuern abliefern, Arbeitern Lohn verweigern, das Missgeschick anderer ausnützen, die Veröffentlichung der Steuererklärung verweigern, nachweislich ununterbrochen die Unwahrheit sagen: Für jeden anderen Kandidaten im Rennen um das Weiße Haus und zu jeder anderen Zeit wäre die Wahl am 8. November bereits so gut wie verloren. Trumps Anhänger aber ficht das alles nicht an. Ja, nicht einmal seine politischen Gegner.

In einem Straßenlokal am New Yorker Broadway, das für einige Wochen in ein Clinton-Wahlquartier umfunktioniert wurde, halten nicht einmal die rund 100 Hillary-Sympathisanten die Luft (vor Freude) an. Als nach 90 Minuten an diesem Montagabend alles vorüber ist, wurde in Gesprächen klar, warum: Manche können sogar hier, in einer Hochburg der Demokraten, wenig Begeisterung für „ihre“ Kandidatin aufbringen. Es fehlt schlichtweg das Vertrauen. So blieben die Reaktionen auf Trumps unverhohlene Verachtung für alle, die zu blöd sind, Steuern zu vermeiden, genauso verhalten wie auf ihre Pointen.

Und genau das scheint das Problem bei dieser wichtigen Entscheidung im November zu sein: Der eine Kandidat stößt mit seinem brutalen Narzissmus nicht genügend Wähler ab, die andere Kandidatin zieht wegen eines Übermaßes an Misstrauen nicht genügend an. Fast scheint es, als würden die USA wie Schlafwandler auf eine Katastrophe zusteuern.

Auch in Europa wollen viele nicht wahrhaben, dass diese Wahl alle, nicht nur die USA, angeht. Anstatt genau hinzuhören, träumen sie noch immer von Europas angeblicher Überlegenheit, die den politischen Aufstieg eines Bullys wie Trump nicht erlauben würde. Oder sie fragen, wie jüngst in der „Presse“: Gibt es wirklich keine wichtigeren Themen? Nein!

Denn es könnte jemand Präsident werden, der die Nato mit einem Einkaufszentrum verwechselt, in dem die Mieter zu wenig zahlen, wie der Kolumnist der „New York Times“, Thomas Friedman, diese Woche schrieb. Oder der glaubt, Clinton habe ihr ganzes erwachsenes Leben erfolglos den IS bekämpft, obwohl der Islamische Staat erst seit einigen Jahren existiert. Oder der am Montag keine einzige Sachfrage in einem zusammenhängenden Satz beantworten konnte. Das kann deshalb geschehen, weil es Clinton nicht gelungen ist, die Vorbehalte gegen sie zu zerstreuen. Aber, um nochmals Friedman zu zitieren, sie wäre wenigstens rational. Alles andere wäre Wahnsinn.

Schon haben die Amerikaner, die für alles sofort eine Abkürzung finden, ein neues Krankheitsbild identifiziert: TAD, Trump-Anxiety-Disorder, also Trump-Angst-Störung. Nach dem wirren Brabbeln am Montag bei der TV-Debatte und all den rassistischen, frauenfeindlichen, uninformierten Äußerungen und den unaufgeklärten Vorwürfen kann man das sogar verstehen.

Was geht hier vor sich? Diese Frage sollte die Europäer, somit auch die Österreicher, nicht interessieren? Wer, wenn nicht Europa hätte die ersten Konsequenzen einer destabilisierten Welt zu tragen? Wo, wenn nicht in Europas umliegenden Regionen wären die ersten Konfrontationsgebiete zwischen den vermeintlich geschwächten USA und ihren Herausforderern? Und wer, wenn nicht ein unkontrollierter US-Präsident mit Hang zu Wutausbrüchen ist dann die größte Gefahr?

Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer wird jüngst in der „Süddeutschen Zeitung“ wohl absichtsvoll davor gewarnt haben, dass es „den Westen“ bald nicht mehr geben könnte. Dann werden mächtige Schlafwandler auch kleine Länder aus ihren Träumen reißen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2016)

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