Der Wahlkampf um die US-Präsidentschaft begann als Unterhaltungsshow. Daraus wurde der bittere Ernst eines verrückten Machtkampfs Mann versus Frau.
Sexuelle Belästigungen, Grapsch-Episoden, Vergewaltigungsvorwürfe, Frauenfeindlichkeit, Erniedrigung; vier Frauen, die Ex-Präsident Bill Clinton sexueller Belästigung und mehr beschuldigen; immer mehr Frauen, die einen möglichen US-Präsidenten Donald Trump desgleichen bezichtigen und ein Video mit der abstoßender Macho-Prahlerei Trumps über sexuelle Übergriffe.
Seit der ersten TV-Konfrontation zwischen Hillary Clinton und Donald Trump vor drei Wochen und erst recht seit der Veröffentlichung des besagten Videos kennt der Kampf ums Weiße Haus am 8. November keine anderen Themen mehr. Sogar Russlands Außenminister, Sergej Lawrow, machte sich in ziemlich kruder Sprache in einem Interview mit CNN darüber lustig.
Die Welt steht am Rande eines neuen Kalten Krieges, in Syrien sterben Hunderttausende, anderswo täglich unzählige Menschen durch Bomben, Europa fürchtet sich vor Flüchtlingen und Terror – und das Rennen um die mächtigste Person der Welt wird von Sex und Lügen bestimmt? Warum? Was sind die tieferliegenden Gründe dafür?
Man kann, wie Michelle Obama in einer viel beachteten Rede am Donnerstag festhielt, nicht so tun, als wäre es nicht so. Es gehe in diesem Wahlkampf schließlich darum, wofür Amerika stehe. Es geht um Respekt – vor Frauen, vor der Freiheit der Meinungsäußerung, vor den nächsten Generationen; es geht um den Charakter der Kandidaten, aber auch um ihre Vorbildwirkung.
Wie also konnte diese Wahlauseinandersetzung derart aus dem Ruder laufen? Das hat erstens mediale Gründe. Seit einem Jahr setzen die US-Medien, auch die seriösen, um der Verkaufszahlen willen auf Emotion. Die lieferte Trump. Sex, Gefühl und Drama sind aber auch die Zutaten zu jeder Show in einer auf Promis und Stars versessenen Gesellschaft. Die Medien waren die Zauberlehrlinge dieses Wahlkampfs, die nun den „Besen Trump“ nicht mehr beherrschen.
Tiefer liegen, zweitens, die sozialen Gründe: Zum einen die ausgeprägte Macho-Kultur, die trotz der starken Frauenrechtsbewegung nie überwunden werden konnte und die sich heute noch in der erstaunlichen Welle an Vergewaltigungen an US-Universitäten und Colleges manifestiert. Sie ist auch verantwortlich für die Einstellung, dass sich Männer einfach nehmen können, was sie wollen – auch Frauen. In dieser Hinsicht erlebten die USA in den vergangen Jahren gewaltige (im wahrsten Sinn des Wortes) Rückschläge.
Eine Ursache ist die Angst vor allem weißer Männer vor den sozialen Veränderungen, wie sie sie in den vergangenen Jahren erlebt haben: vor dem Verlust der Kontrolle, vor dem Verlust vermeintlicher Privilegien und generell vor der Schwächung des Männlichkeitsideals. Sie sehen in Trump das Versprechen neuer Stärke, die Bestätigung, dass alles Vulgäre erlaubt ist. Sie spiegeln sich in Trump, weshalb ihm seine obszönen Reden in dieser Gesellschaftsschicht auch nicht schaden; weshalb sie sich mit ihm über alle Schwachen lustig machen; weshalb er Hillary Clinton als schwach – politisch wie körperlich – karikiert.
Am einfachsten ist die vermeintliche Sexobsession dieser Wahlauseinandersetzung politisch zu erklären. Insofern könnte man für das erste weiblich-männliche Konkurrentenduo in der Geschichte der US-Präsidentschaft geradezu dankbar sein. Würden sich zwei Männer gegenüberstehen, wäre es nicht so deutlich erkennbar: Es geht auch um die Angst amerikanischer Männer vor Frauen in Machtpositionen. Diese Angst kann Trump zu seinen Gunsten manipulieren. Damit lassen sich Emotionen auslösen, die alles andere überdecken können – sexuellen Missbrauch oder Missbrauch der Macht.
Nicht nur das Ausland verfolgt das Schauspiel fassungslos. Auch manche Amerikaner wissen nicht, wann diese Sumermacht ihr Mindestmaß an Anstand verloren hat. Es wird von der Wahlbeteiligung und -entscheidung der Frauen abhängen, ob die USA auch noch den Respekt vor sich selbst verlieren.
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Zur Autorin:
Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2016)