Nur Zwangstrennung durch neues Wahlrecht rettet SPÖ und ÖVP

Wer hätte das gedacht? Kern gesteht, dass es „unterschiedliche Gesellschaftsmodelle“ der Koalitionspartner gibt. Das ist aber schon seit 30 Jahren so.

Verwunderlich, dass ein Geistesblitz, der vor einer Woche die innenpolitische Landschaft erhellt hat, nicht mehr Beachtung gefunden hat. Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) teilte in einem Interview seine Erkenntnis mit, „dass SPÖ und ÖVP sehr unterschiedliche Gesellschaftsmodelle haben“. Was für eine Überraschung! Wer hätte das nach 24 Jahren gemeinsamen Regierens gedacht?

Aber allein schon die Frage, ob die beiden Parteien „nicht einfach zu unterschiedliche Gesellschaftsmodelle haben, um etwas weiterzubringen“, hatte ja schon Sensationswert. Wo war der Interviewer in den vergangenen Jahrzehnten? Und was heißt da schon „einfach“ bei einer so komplizierten Regierungskonstellation, die in 30 Jahren mit Ausnahme von sechs Jahren immer ohne Alternative gesehen wurde? Und einiges von dem, was diese schwarz-blaue Alternative von 2000 bis 2006 so weitergebracht hat, beschäftigt noch immer die Gerichte.

Jetzt plötzlich soll Kern als SPÖ-Chef die grundverschiedenen Gesellschaftsentwürfe entdeckt haben? Da tut man ihm wahrscheinlich unrecht. So naiv kann er nicht sein. Natürlich liegt das wunschlose Unglück der rot-schwarzen Koalitionen in diesen ungleichen Modellen, aber nicht erst jetzt. Und es liegt auch in dem ungeheuren Energieaufwand, diese Unterschiede verschleiern zu müssen. Da blieb und bleibt eben für „weiterbringen“ wenig Kraft.

Allein, man sollte nicht so tun, als gäbe es keinen Ausweg, als seien Politiker der beiden Parteien und Journalisten auf alle Zeiten dazu verdammt, vom gestörten Klima in der Regierung und davon zu reden/schreiben, dass die beiden Parteien eben „nicht miteinander“ und sich schon gar nicht leiden können. Das hörte und las man spätestens seit dem erfolgreichen Ende des Projekts EU-Beitritt 1994 in Abständen immer wieder.

Als Erklärung, Analyse und Parole wird das unendlich langweilig und total unkonstruktiv. Gut, SPÖ und ÖVP haben, wie auch die Korrespondentin der „Neuen Zürcher Zeitung“ bei einer Diskussion diese Woche bemerkt hat, „komplett unterschiedliche Vorstellungen“. Es hat zwar lang gebraucht, aber wenn dieser Erkenntnis jetzt plötzlich zum Durchbruch verholfen wird, dann sollte man endlich die Konsequenz daraus ziehen.

Diese kann nur heißen: Zwangstrennung per Änderung des Wahlrechts. Dann sollten die Bürger eben die Wahl zwischen zwei so unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen haben. Allerdings gehört eine Wahlrechtsänderung zu den unbeliebtesten Themen der Republik.

Verschiedene Vorstellungen hin oder her, SPÖ und ÖVP scheinen lieber zu warten bis ihre „Bestandsgarantie“ (© Kern) abgelaufen ist, als das Risiko eines neuen Wahlrechts einzugehen. Zugegeben, es würde schon viel Mut erfordern, jetzt ein mehrheitsbildendes Wahlrecht in Angriff zu nehmen. Dazu würde eine Zweidrittelmehrheit benötigt werden – und die kleineren Parteien, Grüne und Neos, würden aufschreien, die FPÖ würde es als letzten Versuch, sie von der Macht fernzuhalten, diffamieren.

In Wahrheit wäre eine Reform des Wahlrechts die letzte Chance, das System zu stabilisieren. Es gibt ein Vorbild: Neuseelands „gemischt proportionales Mehrheitswahlrecht“. Es hat Kleinparteien keineswegs eliminiert, zurzeit sind acht Parteien im Parlament vertreten. Es gibt die Hürde von landesweit fünf Prozent oder einem Grundmandat. Die Mehrheit der Abgeordneten wird über Einerwahlkreise direkt gewählt, eine Minderheit über Parteilisten. Jeder Wähler hat zwei Stimmen. Absolute Mehrheiten sind möglich, aber nicht zwingend.

In Österreich würde eine solche oder ähnliche Reform an der seltsamen Gier der Grünen und Neos nach Mitregieren scheitern. Hierzulande wollen alle in Konstellationen regieren, die dann nichts weiterbringen. Denn unterschiedliche Modelle würden alle Parteien in Koalitionen einbringen. Soll es bei gleichbleibendem Wahlrecht also wieder 30 Jahre dauern, bis das jemandem auffällt?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2016)

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