Ratlos in New York: Notizen zur Existenzkrise einer Supermacht

Wie immer dieser einzigartige Kampf um die US-Präsidentschaft ausgehen wird: Das amerikanische Drama wird am Dienstag noch nicht beendet sein.

Er ist ein netter Kerl.“ Lynn, die etwa 40-Jährige, die ihren Einkaufsbummel in der 5th Avenue in New York City unterbrochen hat, um vor dem Trump Tower für Donald zu werben, meint nicht den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner. Sie meint den älteren Mann neben sich mit dem Schild „Trump ist eine nationale Schande“. Die beiden haben sich fröhlich unterhalten. Amerika ist ein freies Land, sagt sie.

Lynn gehört nicht zu den Benachteiligten, den Enttäuschten, den Wütenden, die die Mehrheit der Trump-Anhänger ausmachen. „Ich lebe den amerikanischen Traum“, sagt sie. Warum dann Trump? „Er ist ein Geschäftsmann, er wird uns wieder großartig machen“, sagt sie. Und seine Konkurse spielen keine Rolle? „Waren ja nur seine Firmen, nicht er selbst“, sagt sie. Und seine Frauenfeindlichkeit, seine vulgären Worte stören sie nicht? „Ich muss auf das große Ganze schauen“, sagt sie. Nichts ficht Lynn an. Eine Weile bleibt sie noch, dann geht sie wieder shoppen. Zurück bleiben drei Sympathisanten und drei Gegner vor dem pompösen Gebäude in Manhattan.

Die USA aber stehen vor einer einzigartigen Präsidentschaftswahl am kommenden Dienstag. Zum ersten Mal
•steht mit Trump ein Kandidat zur Wahl, der noch nie ein öffentliches Amt bekleidet hat. Dwight Eisenhower in den 1950er-Jahren hat zumindest ein hohes militärisches Amt innegehabt.
•hat eine der Großparteien einen Kandidaten nominiert, den die Parteiführung zutiefst verachtet.
•hat eine der Großparteien eine Frau aufgestellt.
•stehen sich zwei Kandidaten gegenüber, die beide Probleme mit der Justiz haben: Gegen Trump sind 73Prozesse anhängig, darunter einer wegen Betrugs und einer wegen Vergewaltigung einer 13-Jährigen vor zwölf Jahren. Die junge Frau wollte am Mittwoch eine Pressekonferenz geben. Tat sie dann nicht. Zweifel tauchten auf. Trump muss jedenfalls am 16. Dezember vor Gericht. Gegen Clinton gab es Ermittlungen wegen missbräuchlicher Verwendung von geheimen E-Mails in ihrer Zeit als Außenministerin. In ihrem Wahlkampf mischt die Bundespolizei jetzt überraschend auch wieder mit.
•stellt ein Kandidat die friedliche Machtübergabe infrage und verweigert vorerst die Akzeptanz des Wahlresultats.
•zieht ein Kandidat die Freiheit der Presse in Zweifel.
•gab es in einem Wahlkampf gleichzeitig eine sozialistische Bewegung (Bernie Sanders, Clintons Rivale in den Vorwahlen) und eine autoritäre Bewegung. Nazi-Sympathisanten und das Sprachrohr des rassistischen Ku-Klux-Klans unterstützen Trump offen. Er hat sich nicht distanziert. Nach einem Brandanschlag auf eine afroamerikanische Kirche in Mississippi war auf der Wand zu lesen: „Wählt Trump!“
•kommen beide Kandidaten aus New York, als spiele das restliche Land keine Rolle.
•wird ein Präsidentschaftskandidat in der „New York Times“ als heuchlerischer Fanatiker, Demagoge, Sexist, chauvinistisches Schwein, Betrüger, pathologischer Lügner, Antisemit und Xenophob beschrieben (Kolumnist Charles M. Blow).
•warnt ein amtierender Präsident wenige Tage vor der Wahl seiner Nachfolge, dass „die Welt am Abgrund steht“ (Barack Obama diese Woche).

Das lässt sich an diesem herrlichen Herbsttag in Queens, dem New Yorker Stadtteil, aus dem Trump stammt, nicht erahnen. Die Laubbäume der Allee des Midland Parkway strahlen in den schönsten Farben. Die Villen erinnern an die späten 1950er-, frühen 1960er-Jahre: groß manche, gediegen alle. Das Elternhaus von Donald Trump ist renovierungsbedürftig.

Am Anfang des Parkway, in der Hillside Avenue, sind Weiße rar. Nur Bob lässt mit sich reden. „Ich kann mir das alles nicht erklären“, sagt er. Auch er will Clinton „gar nicht“, werde sie dennoch wählen. Ratlos in New York. Am Sonntag drehen die Amerikaner die Uhr um eine Stunde zurück. Um wie viel bei dieser Wahl, das wird der Dienstag zeigen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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