Ein Land wird schizophren: Es prügelt Politiker, die es gleichzeitig hofiert

Die momentane Aufregung über die schlechte Qualität des politischen Personals kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen: Die Zustände, die wir haben, wurden von allen zu lange akzeptiert.

Er würde nie in die Politik gehen, meinte unlängst ein Jurist, weil er a) die Zeugnisnoten seiner Kinder nicht in den Medien lesen und sich b) von diesen nicht auch noch beschimpfen lassen möchte. Neuerdings müsste er hinzufügen: oder auch von Bankern wie Andreas Treichl.

Der Mann stellte eine beliebte Schutzbehauptung auf. Vom Generaldirektor bis zum Freiberufler und/oder Handwerker erklären viele wortreich, warum sie keinesfalls eine politische Funktion übernehmen würden. Dann drehen sie sich um und qualifizieren Politiker als blöd, dumm, feig, deppert, abgehoben etc. ab. Man müsste sich zum Beispiel die Mühe machen, im Archiv nachzuforschen, wie oft Treichl sich taub gestellt hat, als ihn ein Ruf aus der Politik erreichte – fürs Finanzministerium etwa.

Dennoch muss man dankbar sein, dass er rot gesehen hat. Denn nun sollte eine ernsthafte Diskussion über die schizophrene Haltung vieler Bürger, inklusive larmoyanter Wirtschaftskapitäne, geführt werden. Auf die Rolle der Medien nicht zu vergessen, denn dort hat offenbar ein Wettlauf zu den ärgsten Beleidigungen für Politiker eingesetzt. Und dann kann man mit einer substanziellen Überprüfung der Ausleseverfahren für die Politik beginnen. Alle drei Aspekte sind nämlich eng miteinander verbunden.

Viele Österreicher hofieren jene politischen Funktionsträger, die sie aber gleichzeitig zutiefst verachten. Dass sie ihnen nichts als Bösartigkeit und Blödheit zutrauen, hindert sie nicht am devoten Auftreten. Wer wiederum in einer Position ist, in der er Politik aktiv mitgestalten könnte, will diese keinesfalls verlassen. Zeitgleich wird der Mangel an Gestaltung beklagt. Und wir Journalisten tun dann das Übrige, um der vermeintlichen Anti-Politik(er)-Stimmung in der Bevölkerung gerecht zu werden und sie mit Häme zu bedienen.

Dann wundern sich alle zusammen über die selbsterfüllende Prophezeiung und die Negativauslese in den Parteien. In Wahrheit tragen alle zusammen Verantwortung für den jetzt so bejammerten Mangel an Kompetenz und dafür, dass die Politik als freie Wildbahn für Minderleister gesehen wird. Die Frage ist schon erlaubt: Wie genau soll dieses kollektive Nasenrümpfen über Politiker und das generelle Händewaschen in Unschuld, alias Verschiebung der Schuld an den Zuständen im Kreis – Bürger, Politiker, Medien und zurück –, das Land auch nur einen Deut weiterbringen? Was ist damit gewonnen oder bewirkt? Ist damit auch nur eine Reform eingeleitet, ein Schritt in Richtung Verbesserung getan?

Der Leidensdruck in der Bevölkerung ist groß, gewiss, aber immer noch abgemindert durch die vielfältigen Möglichkeiten, die Eigeninteressen irgendwie durchzusetzen, es sich also zu „richten“. Veränderungen seien illusorisch, heißt es jetzt. Auch wieder so eine Schutzbehauptung inaktiver Bürger. Kairo war auch „illusorisch“.

Um den Teufelskreis zu durchbrechen und den Anfang in Richtung Mentalitätsänderung zu machen, könnten wir Journalisten uns die Selbstverpflichtung auferlegen, das wenig konstruktive Trommelfeuer der Schimpfwörter und die ständige persönliche Beurteilung einzustellen. Das würde den einen oder anderen vielleicht aus der Deckung in die Politik locken, ihm jedenfalls die Ausrede aus der Hand schlagen. Es wäre den Versuch wert.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2011)

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