Hurra, wir leben noch! Nun lasst uns Schulden machen, bis der Arzt kommt

Der Kanzler warnte in Straßburg eindringlich vor dem "Kaputtsparen" Europas. Angesichts der ja nach wie vor lebensgefährlich hohen Schuldengebirge eine reichlich gewagte ökonomische These.

Solidarität und Nächstenliebe“, erklärte Bundeskanzler Werner Faymann bei seiner Rede vor dem Europäischen Parlament diese Woche, müssten „stärker sein als Spekulation und Gier“. Ob das eine Rücktrittsaufforderung an die Adresse der Genossin Gabriele Burgstaller oder doch eher an die Schweizer-Franken-Zocker in der roten Gemeinde Wien war, führte er leider nicht näher aus.

Ansonsten war es eine jener weitgehend inhaltsbefreiten rhetorischen Ergebenheitsadressen an das – vermeintlich – alternativenlose Friedensprojekt Europa, mit denen sich die höheren Dignitäten in Brüssel tagtäglich gegenseitig in den Halbschlaf reden. Unter dem Aspekt des Erkenntnisgewinns war des Bundeskanzlers Rede nicht wesentlich ergiebiger als ein halbstündiger Aufenthalt in der Telefonwarteschleife eines beliebigen Callcenters. Dass drei Viertel aller Europarlamentarier es vorgezogen haben, den Darbietungen des Kanzlers fernzubleiben, deutet jedenfalls auf deren realistische Einschätzung der Bedeutung des Ereignisses hin.

Wirklich bemerkenswert an der Rede Faymanns war nur deren Rezeption in Österreich. Als hätte hier ein wiedergeborener Winston Churchill visionär den kühnen Weg Europas in ein goldenes 22.Jahrhundert vorgezeichnet, wurde der SPÖ-Chef in erstaunlich vielen Medien außerordentlich freundlich rezensiert. In den meisten Fällen freilich mit dem sachlich richtigen, aber doch irgendwie ärmlich daherkommenden Argument, früher habe es Faymann noch vorgezogen, seine Europa-Politik der „Krone“ vorzutragen, und nicht dem Europäischen Parlament. Was doch recht deutlich darauf hinweist, dass die gute Nachrede für Faymanns Straßburger Gig weniger dessen Brillanz als vielmehr der erzwungenen Anspruchslosigkeit der innenpolitischen Rezensenten geschuldet ist, die in dieser Hinsicht ja nicht wirklich verwöhnt sind.

Wenig überraschend, aber dennoch betrüblich war des Kanzlers in Straßburg abermals vorgetragene Warnung vor dem „Kaputtsparen“ Europas. Nur zur Erinnerung: Im vergangenen Jahr konnte ein Zusammenbruch der Eurozone unter der Last der dort angehäuften Schuldenberge gerade noch verhindert werden – bis auf Weiteres jedenfalls. Und das auch nur mittels Einsatzes hochtoxischer Medikamente (wie Gelddrucken durch die Europäische Zentralbank und Errichtung eines ursprünglich verbotenen Haftungsmechanismus), deren üble Nebenwirkungen in den nächsten Jahren noch zu spüren sein werden.

Angesichts einer derartigen Situation vor den Gefahren des „Kaputtsparens“ zu warnen ist ungefähr so sinnvoll wie in einer Lungenheilanstalt vor den Gefahren des plötzlichen Nikotinentzugs – Gewichtszunahme, Unkonzentriertheit und Nervosität – zu referieren. Und nein, der Umstand, dass drei Viertel der Abgeordneten abwesenheitsbedingt gar nicht zugehört haben, gilt da nicht als Milderungsgrund.

Wer als Regierungschef – wie Faymann in Straßburg zumindest implizit– in dieser höchst delikaten Lage dafür plädiert, die nach wie vor nicht wirklich substanziell entschärfte Schuldenkrise durch neue Schulden lösen zu wollen, der setzt damit letztlich jene ohnehin höchst fragile Entspannung aufs Spiel, die neuerdings auf den Finanzmärkten wahrgenommen wird. Was daran „solidarisch“ oder gar „nächstenlieb“ sein soll, eröffnet sich nicht wirklich.


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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2013)

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