Wie gefährlich ist es, wenn das Leben nicht dauernd teurer wird?

Die meisten Konsumenten dürften sich für ziemlich blöd verkauft vorkommen, wenn Europas ökonomische Eliten vor den Gefahren zu geringer Inflation warnen.

Für ganz normale Menschen, die Jahr für Jahr bekümmert feststellen müssen, dass sie für einen 100-Euro-Schein immer weniger Waren in den Einkaufskorb ihres Supermarktes legen können, muss eher befremdlich geklungen haben, was Europas oberste Währungshüter vor einigen Wochen sagten: „Der EZB-Rat ist sich einig, dass die EZB gegebenenfalls auch weitere unkonventionelle Maßnahmen im Rahmen ihres Mandats einsetzen wird, um die Risiken einer zu langen Periode niedriger Inflationsraten in den Griff zu bekommen.“

Was so besonders riskant daran sein soll, wenn die Preise einmal eine Zeit lang nicht so schnell steigen wie sonst oder möglicherweise sogar einmal ausnahmsweise zurückgehen sollten, eröffnet sich auch dem intellektuell anspruchsvollen Konsumenten nicht wirklich. Trotzdem warnen Ökonomen, Politiker und Wirtschaftsjournalisten, seit die (offizielle) Inflationsrate in der EU tatsächlich nur mehr knapp über null liegt, vor angeblich drohenden Gefahren einer Deflation – also einer Zeit sinkender Preise –, als handelte es sich dabei um eine Art ökonomisches Ebolavirus.

Zum Beweis der Gefährlichkeit dieser Deflation wird regelmäßig behauptet, die Konsumenten würden angesichts fallender Preise immer mehr Konsum in die Zukunft verschieben, um billiger kaufen zu können, und damit die Nachfrage und in der Folge die Wirtschaftsleistung und letztlich den Wohlstand vermindern.

Besonders plastisch hat die Schrecken einer „deflationären Todesspirale“ unlängst der „Financial Times“-Kolumnist Wolfgang Münchau seinen Lesern nahegebracht. „Wer damit rechnet, dass die Preise fallen, der kauft sich den Kühlschrank erst im nächsten Jahr, weil er dann billiger sein dürfte. Im nächsten Jahr kauft er ihn dann aber auch nicht, denn schließlich könnte er im Jahr darauf noch mal billiger werden“, malte Münchau (auf „Spiegel Online“) ein düsteres Szenario unverkäuflicher Kühlschrank-Gebirge. Er hat damit freilich nur bewiesen, dass auch Star-Ökonomen erstaunlich wenig Ahnung von der Wirklichkeit haben können. Denn dort werden Kühlschränke gekauft, weil und wenn sie gebraucht werden.

Die Vorstellung hingegen, dass jemand ein oder zwei Sommer ohne Kühlschrank verbringt, weil die dann vielleicht billiger werden, kann eigentlich nur in einem geschlossenen Sanatorium für Menschen entstehen, die zwanghaft von der Idee besessen sein, John Maynard Keynes zu sein.
Das gilt natürlich nicht nur für Kühlschränke. Die Mehrheit der weniger gut verdienenden Menschen werden weder ihre Mietzahlungen noch die Ausgaben für Fleisch und Brot, Benzin und Lebensversicherung oder die neue Blue Jean für die Tochter auf das übernächste Jahr verschieben können, bloß weil dann vielleicht die Preise niedriger sind. Man kennt das Phänomen bestens von Laptop und Tablet: Jeder weiß, dass es nächstes Jahr bessere Geräte für weniger Geld geben wird – und trotzdem kauft jeder und jede natürlich hier und jetzt. Für Konsumenten ist Deflation nicht gefährlicher als eine ordentliche Gehaltserhöhung.

Wirklich bedrohlich ist Deflation hingegen für Schuldner – und da vor allem für den größten aller Schuldner, nämlich den Staat. Denn der muss in Zeiten steigenden Geldwertes natürlich immer mehr zurückzahlen und kommt damit in eine eher verdrießliche Lage; während er in Inflationszeiten seine Verbindlichkeiten auf Kosten seiner Gläubiger elegant loswird.

Deshalb fürchten der Staat und seine Funktionäre die Deflation so sehr. Um so mehr, als die Bekämpfung der vermeintlich drohenden Deflation noch dazu ein perfektes Alibi dafür bietet, einfach massenhaft Geld zu drucken und damit die Volkswirtschaft bei Laune zu halten, wie das in den USA seit Jahren üblich ist (und auch von der EZB schon ernsthaft erwogen wird). Anders sind Menschen, die einen Kühlschrank brauchen, ja bekanntlich auch nicht dazu zu bewegen, sich einen zu kaufen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.