Das wäre beinah eine "Europäische Reichskristallnacht" geworden

In Europas Metropolen tobt sich ein antisemitischer Mob aus, was das sogenannte Friedensprojekt Europa freilich weniger kümmert als die Glühbirnenfrage.

Die paar alten Kukident-Nazis, die heute noch leben, müssen in den vergangenen Tagen eine Art geistigen Reichsparteitag genossen haben, wenn sie sich im Rollator zum Fernseher geschleppt haben, um Nachrichten zu schauen: Da zog in Europas Metropolen Berlin, Paris und London ein antisemitischer Mob durch die Straßen, als schrieben wir 1938, attackierte einheimische Juden und israelische Touristen, versuchte, Synagogen zu zerstören, und griff Geschäfte jüdischer Besitzer an. „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!“, skandierten Randalierer in Berlin unter den Augen der deutschen Polizei, die dagegen nicht nur nicht vorging, sondern den Tätern auch noch einen Lautsprecher lieh, und ein islamistischer Berliner Hassprediger rief glatt dazu auf, die Juden umzubringen: „Juden ins Gas!“ Im Salzburger Bischofshofen greifen antisemitische Hooligans israelische Fußballer tätlich an. Dass allein in den letzten Monaten 700 französische Juden in den von Hamas-Raketen beschossenen Süden Israels ausgewandert sind, belegt, wie behütet sich Juden am Beginn des 21.Jahrhunderts in Europa wieder fühlen können. Mit hoher Wahrscheinlichkeit steht fest: Ohne massiven Polizeieinsatz hätte es vergangene Woche in der EU brennende Synagogen, eingeschlagene Fensterscheiben jüdischer Geschäfte und ein paar gelynchte Juden gegeben. Europa war in dieser Woche gar nicht so weit weg von einer unionsweiten Reichsprogromnacht 2.0, einer Art Binnenmarkt des Antisemitismus sozusagen.

„Dass ich das noch erleben darf“, wird sich der eine oder andere der heute noch lebenden NS-Veteranen angesichts dieser Bilder wohl erfreut gedacht haben.

Aufschlussreich waren die Reaktionen der hauptberuflichen Kranzniederleger und anderen Klagemauertouristen auf das Treiben dieses Mobs in den europäischen Metropolen. Die Proponenten des „Europäischen Friedensprojekts“ in Brüssel, das sich sonst ja um jede Glühbirne auf dem Territorium der EU kümmert, sahen den milieubedingten Unmutsäußerungen des antisemitischen Pöbels zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Das erstaunt insofern, als beim Anzünden einer Synagoge ja noch mehr klimaschädliches Kohlendioxid als beim Verwenden einer verbotenen Glühbirne entsteht, ist aber hingegen verständlich, da die Berufseuropäer derzeit voll damit ausgelastet sind, sich gegenseitig die hoch dotierten Topjobs in Brüssel zuzuschieben, so sie nicht ohnehin schon urlaubshalber an der Côte abhängen, wo man sogar als Jude noch sicher ist, zumindest, wenn man sich ein Zimmer im Eden Roc in Antibes leisten kann. Nur weil das „Friedensprojekt Europa“ seit Kurzem Träger des Friedensnobelpreises ist, muss sich die so dekorierte Union nicht darum sorgen, dass die Juden Europas in Frieden gelassen werden. Man kann sich ja nicht um alles kümmern, die EU als Besserungsanstalt für ihre Insassen ist genug.

Auch in Österreich, das auf eine gewisse Tradition in Sachen „Reichskristallnacht“ zurückblicken kann, hielten sich die Reaktionen in überschaubaren Grenzen. Der Herr Bundespräsident war halt wahrscheinlich noch ganz im Bann der lustigen Witze, die sein Gast Wladimir Putin in Wien kurz vor dem Abschuss des Malaysian-Fliegers zum Besten gegeben hat, und muss sich im Übrigen auf den Staatsbesuch im Iran, wo sie tagaus, tagein Schwule auf Kränen aufhängen, vorbereiten. Wer da Zeit findet, bei einer Tanzfestivaleröffnung vor laufenden Kameras zu trommeln und tanzen, kann sich nicht noch um Meinungsverschiedenheiten zwischen Juden und Antisemiten irgendwo in Europa kümmern, ist eh im Ausland. Im Nahostkonflikt hat er sich ohnehin klar positioniert: „Beim Treffen mit seinem slowakischen Amtskollegen Andrej Kiska rief Bundespräsident Heinz Fischer Israel und die Hamas zur Zurückhaltung auf“, ließ uns die Wiener Hofburg dieser Tage wissen.

Übrigens kann man Europas Juden einen Vorwurf nicht ersparen: dass es bei den Ausschreitungen keinen jüdischen Toten gegeben hat, wird der Mob als Provokation verstehen, bald weiterzumachen. Die Juden sind, wie immer, selbst schuld.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2014)

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