Ist der Islamische Staat denn überhaupt ein islamischer Staat?

Saudiarabien enthauptet derzeit völlig unbehelligt noch eifriger als der Islamische Staat. Mit dem Islam aber hat das alles natürlich nichts zu tun.

Haben die Regierungen der westlichen Staaten – und damit letztlich deren Wähler – eigentlich ein Problem damit, wenn vermummte Männer irgendwo in der arabischen Wüste im Namen Gottes anderen Menschen den Kopf abschneiden? Richtige Antwort: Kommt darauf an! Wenn etwa die Herrschaften vom Islamischen Staat (IS) wieder einmal ein Köpfungsvideo online stellen, kennt die Empörung keine Grenzen. Da ist dann schnell von einem „Krebsgeschwür“ die Rede, „das ausgemerzt werden muss“ (Barack Obama) oder werden die IS-Leute zu „Monstern“ erklärt (Britenpremier David Cameron).

Wenn hingegen ein paar Ecken weiter, im saudiarabischen Riad zum Beispiel, jemand enthauptet wird, so ist die Empörung in den westlichen Staatskanzleien eher überschaubar. Die Aufregung der meisten Medien hält sich in Grenzen, das Ganze wird eher als Teil der lokalen Folklore verstanden. Dabei köpfen die Saudis derzeit möglicherweise sogar fleißiger als der IS. Allein seit Anfang August hieß es über 40 Mal: „Rübe ab“ – und zwar nicht nur bei Drogendelikten. Vermeintlicher Hochverrat an den regierenden Wahabiten reicht da völlig.

Klar, im Vergleich zu den übermütigen Herrschaften vom Islamischen Staat köpfen die Saudis weniger spontan. Doch der Unterschied zwischen dem „Krebsgeschwür“ IS und den im Westen hofierten Saudis ist eher ein stilistischer und quantitativer denn ein irgendwie grundsätzlicher. Und das gilt natürlich nicht nur für die Saudis. Denn das Auspeitschen oder Steinigen von sexuell selbstbestimmten Frauen und das Aufhängen von Schwulen auf Baukränen sind in einem erheblichen Teil der islamischen Welt gern gesehen – von Brunei ganz im Osten über Pakistan, Afghanistan, den Iran und die arabische Halbinsel bis in die islamischen Territorien Afrikas.

In all diesen kuscheligen Gegenden werden also letztlich Werte vertreten und exekutiert, die jenen des Islamischen Staates nicht eben diametral entgegengesetzt sind: eine unappetitliche Geschlechter-Apartheid, die Verfolgung sexueller Minderheiten, die Diskriminierung und oft offene Verfolgung aller, die nicht Muslime sein wollen, die Anwendung besonders grausamer körperlicher Strafen gegen Missliebige und eine massive Ablehnung von Demokratie, Aufklärung und Menschenrechten.

Dass jüngsten Umfragen zufolge eine große Mehrheit der Saudis, aber auch eine nicht eben marginale Minderheit der türkischen Bevölkerung mit dem Islamischen Staat sympathisiert, ist da so wenig überraschend wie der Umstand, dass die Saudis den IS bis vor Kurzem unterstützten, und auch die Türkei ein eher ambivalentes Verhältnis zu diesen Halsabschneidern pflegt.

Das ist insofern nicht ganz unwichtig, als die im Westen von der Appeasement-Fraktion gern vertretene Theorie, der Islamische Staat sei so etwas wie ein Zerrbild des Islam und habe eigentlich mit diesem in Wahrheit nichts, aber auch schon überhaupt nichts zu tun, dadurch nicht eben erhärtet wird.

Denn wenn der IS nichts mit dem Islam zu tun hat, dann hat wohl auch Saudiarabien nichts mit dem Islam zu tun, auch der iranische „Gottesstaat“ nicht – und natürlich auch nicht die Millionen von Moslembrüdern, die Salafisten und viele andere mehr oder weniger radikale Strömungen dieser Religion. Wenn der IS nichts mit dem Islam zu tun hat, dann hat ein Großteil des Islam nichts mit dem Islam zu tun, was so wohl eher nicht stimmen dürfte.

Dieses Problem lässt sich so wenig wie Ebola auf seine Ursprungsländer begrenzen. Denn über TV-Satellitenkanäle, die Social Media und andere digitale Plattformen strahlen die Botschaften aus der Welt der Halsabschneider schon längst auch nach Europa, um hier lebende Muslime zu beeinflussen.

Europa setzt dem bisher im Wesentlichen nichts entgegen, außer Ignoranz und falsch verstandene Toleranz. Dafür wird es früher oder später einen unangenehm hohen Preis entrichten müssen.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2014)

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