Hilfe, wir haben noch immer nicht genug Schulden!

Deutschland, so wird immer öfter behauptet, ist das Problem Europas. Klar, und die Feuerwehr ist das Problem bei jedem Brand.

Eigentlich hatten wir ökonomischen Laien ja bisher gedacht, an der nicht enden wollenden Wirtschaftskrise in Europa seien die betrügerische Krida der Griechen, die unmäßige private Verschuldung der Spanier, die völlige Reformunfähigkeit der Franzosen und schließlich die riesigen Schuldengebirge schuld, die in der Eurozone aufgetürmt worden sind. Mit einer viel originelleren Theorie hat uns diese Woche der „Profil“-Kolumnist Peter Michael Lingens erhellt: „Europas Problem heißt Deutschland“.

Das ist insofern recht lustig gedacht, als Deutschland in den vergangenen paar Jahren aufgrund seiner halbwegs vernünftigen Wirtschaftspolitik mehr oder weniger im Alleingang dafür sorgte, dass in der restlichen Eurozone die Wirtschaft leidlich prosperierte. Ohne die beeindruckenden Exporterfolge deutscher Unternehmen in China, den USA oder den aufstrebenden Schwellenmärkten wäre Europa schon längst in eine veritable Rezession gestürzt. Inwiefern Europas Problem da Deutschland heißt, erhellt sich nicht eben, aber Wirtschaft versteht halt nicht jeder.

Kurios mutet diese Diagnose auch an, weil ohne die enormen Zahlungen und Haftungen Deutschlands der Euro wahrscheinlich heute schon eine rauchende Ruine wäre. Nur Deutschlands Bereitschaft, die diversen Rettungsschirme, Stabilitätsfonds und anderen Lebenserhaltungssysteme mit hunderten Milliarden zu finanzieren, hat dem Euro das Leben gerettet. Zu behaupten, dass „Europas Problem Deutschland heißt“, strapaziert die Fakten da schon in sehenswertem Ausmaß. Genauso gut könnte man einer freiwilligen Feuerwehr, die zum Brand eines Hauses ausrückt, den Ausbruch dieses Feuers vorwerfen und anschließend darüber Klage führen, dass Löschwasser die Perserteppiche beschädigt habe.

Wer Deutschland für „das Problem Europas“ hält, kann sich ja einen Augenblick vorstellen, wie heute eine Eurozone dastünde, in der sich Deutschland in den vergangenen zehn Jahren wie Italien oder Frankreich geriert hätte: Der hätten die Gläubiger mit Recht bereits den Geldhahn abgedreht wie den Griechen vor ihnen.

Das schlimmste Wirtschaftsverbrechen jedoch, dessen sich die Deutschen in den Augen Lingens' offenbar schuldig machen: Dass sie heuer das erste Mal seit Menschengedenken nicht mehr ausgeben, als sie einnehmen. „In Panik zu geraten, weil sich ein funktionierender Staat ... mit 80 oder 100 Prozent seiner jährlichen Wertschöpfung verschuldet, ist absurd.“ Klar, sich an Verträge und Versprechen zu halten, ist ja nun echt das Letzte.

Dieser Meinung sind bekanntlich auch die sozialistischen Schuldenjunkies in Rom und Paris, die von Deutschland verlangen, sich nach ihrem Vorbild in neue Schulden zu stürzen. Solange nicht alle EU-Staaten den Schuldenstand Griechenlands erreicht haben, kann das nichts werden mit dem Aufschwung.

Leider erschließt sich nicht, warum der Bau einer unnötigen neuen Autobahn in Deutschland auf Pump dem Verkauf wenig wettbewerbsfähiger französischer Autos irgendwie helfen könnte, aber wenn man fest genug an Herrn Keynes glaubt, wird dieses Wunder geschehen.

So besehen war es wirklich ein Glück, dass Deutschland in den vergangen Jahren als einziges Land der EU nicht so recht an die Segnungen massiver Schuldenexzesse glauben wollte – hätte sich die ganze Eurozone wie Deutschland verhalten, wären wir dieser Logik folgend schon alle völlig verarmt (was ja gewöhnlich die Folge von zu wenig Schulden ist, wie jeder weiß).

Wenn „Europas Problem Deutschland“ heißt, dann sollte die EU ganz schnell daraus die Konsequenz ziehen und Deutschland, zusammen mit ein paar unverantwortlich unterverschuldeten Staaten wie Schweden oder Tschechische Republik, ausschließen und sich selbst überlassen. Eine EU, die sich unter der Führung von Paris und Rom endlich gesundverschulden könnte, ginge zweifellos einer goldenen Ära nie gesehener Prosperität entgegen, während Deutschland mit seinen mickrigen Schulden wohl dem Untergang preisgegeben wäre. Aber gute Taten rächen sich eben bekanntlich unerbittlich.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2014)

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