Haben Eltern das Recht, ihre Kinder umzubringen?

Nach den 9/11-Leugnern, „Chemtrail“-Spinnern und Lichtnahrungsgläubigen wüten nun die viel gefährlicheren Impfgegner gegen jegliche Vernunft.

Vergangene Woche ist in Berlin ein noch nicht einmal zwei Jahre altes Kind an den Folgen einer Masernerkrankung gestorben. Und damit mittelbar auch an der Ignoranz seiner Eltern. Denn eine rechtzeitig vorgenommene Impfung hätte diese Tragödie mit Sicherheit verhindert. Zumindest genauso erschreckend wie die tödliche Seuche selbst ist freilich jener Obskurantismus, jene Irrationalität und Faktenverweigerung, die seither in den Debatten über die Vor- und Nachteile des Impfens von Kindern vor allem in den sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook hochschwappt und die Gehirne vernebelt.

Wider besseres Wissen machen da mehr oder weniger verwirrte „Impfgegner“ sonder Zahl Propaganda für ein Verhalten – Kinder nicht impfen zu lassen –, das letztlich nicht nur lebensbedrohend sein kann, sondern auch das Leben Dritter gefährdet, wenn die Anzahl der Geimpften in einer Population zu gering wird.

Auf fünf Prozent wird der Anteil dieser Hardcore-Impfgegner geschätzt, zumindest bemerkenswerte 50Prozent aller Eltern aber stehen Impfungen „skeptisch“ gegenüber. Allein ein Verein namens Aegis, der seine Aufgabe allen Ernstes darin sieht, „Menschen, vor allem Eltern von kleinen Kindern, über die Nutzlosigkeit von Impfungen aufzuklären“, hat mehr als 1000 Mitglieder.

Dabei ist die Faktenlage völlig klar: zwei von 1000 nicht geimpften Kindern sterben an den Folgen der Masern, während es bei 17 Millionen überprüften Impfungen sieben Fälle schwerer Komplikationen gegeben hat. Damit sollte die Debatte eigentlich für jeden nicht wegen geistiger Verwirrung besachwalterten Menschen erledigt sein: Nicht impfen ist um Zehnerpotenzen gefährlicher als impfen. Punkt.

Stattdessen verbreiten sich derzeit die abstrusesten Theorien darüber noch schneller als das Masernvirus in einem Kindergarten. Da wird von einer düsteren Verschwörung von Pharmakonzernen, Ärzten und Medien geraunt und wird die Wirksamkeit von Immunisierungen bestritten. Die militantesten Impfgegner veranstalten sogar „Masernpartys“, auf denen sich die Kinder gegenseitig infizieren sollen (wofür den Eltern eigentlich ein paar Jahre Haft gebührten). Munter mischt sich da törichter Antikapitalismus („böse Konzerne“) mit alberner Technik-und Fortschrittsfeindlichkeit (das böse „Gen“) und Bachblüten-statt-Schulmedizin-Unfug.

Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das weit über die aktuelle Causa Impfen hinausreicht: einer explosionsartigen Zunahme des Obskurantismus, der öffentlichen Spinnerei und von Verschwörungstheoretikern aller Art. Fast könnte man meinen, eine Art von irrational angetriebener Gegenaufklärung eroberte Stück für Stück den öffentlichen Raum. Wenn der ORF für eine Dokumentation über Menschen, die sich nur von Licht ernähren, üppig Sendezeit zur Verfügung stellt oder zunehmend Esoteriker aller Art in die Politik strömen und dann an einen Minister parlamentarische Anfragen über angebliche „Chemtrails“ stellen, kann man erkennen, wie versifft der öffentliche Diskurs mit diesem Irresein mittlerweile ist.

Das Internet, und da vor allem die sozialen Medien, wirkt in diesem Zusammenhang als übler Brandbeschleuniger. Auch die absurdesten und vertrotteltsten Behauptungen verbreiten sich in diesem Medien mit affenartiger Geschwindigkeit. Einzige Voraussetzung: die irrationalen Befindlichkeiten des jeweiligen Users zu bedienen, völlig unabhängig von den Fakten. (Stellen Sie einfach die Behauptung ins Netz, einem Baby wäre nach einer Impfung ein Elefantenrüssel gewachsen, und warten Sie, bis sich diese um die ganze Welt verbreitet hat. Es wird keinen Tag brauchen).

Eltern, die ihre Kinder im Auto nicht anschnallen, kriegen dafür bis zu 5000 Euro Strafe verpasst. Dass Eltern das Leben ihrer Kinder hingegen durch das Unterlassen von Impfungen völlig ungestraft gefährden dürfen, ist ein nicht wirklich zweckmäßiger Zustand.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2015)

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