Europas politische Eliten: Teil des Problems und nicht der Lösung

Es darf nicht verwundern, dass immer mehr europäische Bürger, aber auch immer mehr Intellektuelle ein Ende der Europäischen Union für denkbar halten.

Ist es denkbar, dass die Europäische Union eines – nicht all zu fernen – Tages einfach verschwindet wie einst die Bundesrepublik Jugoslawien, das Habsburger-Reich oder die Sowjetunion? Oder zwar weiterbesteht, aber in völliger Bedeutungslosigkeit verschwindet wie etwa die EFTA (einst ja ein durchaus vitaler Gegenspieler der EU)? Kann es sein, dass Brüssel wieder einfach nur Belgiens Hauptstadt sein wird, in der all jene Bürokomplexe leer werden, in denen heute die europäischen Institutionen amtieren?

Noch vor ein paar Jahren wäre wohl in der Obskuranten-Ecke des öffentlichen Diskurses gelandet, wer Derartiges ernsthaft prophezeit hätte. Und rasend wahrscheinlich erscheint eine derartige Entwicklung natürlich auch heute nicht. Aber ganz ausgeschlossen kann sie, so wie die Union derzeit dasteht, auch nicht mehr werden. „Wird die Europäische Union sterben?“, überschrieb erst jüngst der prominente US-Verleger Steve Forbes seinen Leitartikel im Magazin „Forbes“. Selbst die notorisch unaufgeregte Hamburger „Zeit“, stets dem „europäischen Friedensprojekt“ verbunden, urteilte jüngst, Europa warte derzeit „auf die Gnade des wiederkehrenden Wachstums. Doch das Einzige, was wächst, sind Protestparteien und das Gefühl, die Europäische Union sei nicht unsterblich.“

Heute, zehn Jahre nachdem die Wähler in Frankreich und in den Niederlanden die damals geplante „Europäische Verfassung“ abgewählt haben, wächst die Sehnsucht nach stärkeren Nationalstaaten, nach kontrollierten Grenzen und weniger Brüssel. Die „immer engere Union“, wie sie 1958 in den Gründungsverträgen der EU vereinbart worden ist, könnte eine immer schwächere Union werden, die irgendwann völlig irrelevant wird.

Das liegt vor allem daran, dass in immer mehr Mitgliedstaaten EU-skeptische oder gar EU-feindliche Parteien bei Wahlen erfolgreich abschneiden. Ob Großbritannien nach dem kommenden EU-Plebiszit überhaupt noch in der Union verbleiben kann, ist ungewiss. In Frankreich gewinnt Marine Le Pen, die einen Austritt Frankreichs aus der Eurozone und die Wiedereinführung von Passkontrollen an den Außengrenzen fordert, von Wahl zu Wahl signifikant dazu. In Italien betreibt die Fünf-Sterne-Bewegung des Beppe Grillo einen Austritt Italiens aus der Eurozone; die Gemeinschaftswährung sei für sein Land „ein Strick um den Hals“, so Grillo. Und in Spanien möchte Podemos, der Shooting Star unter Europas neuen Protestparteien, zwar nicht aus dem Euro austreten, den aber im Wege von Vertragsänderungen zu einer Art windelweicher Euro-Lira umbauen. Dass in Österreich die FPÖ, nicht zuletzt ihrer Gegnerschaft zur EU wegen, schon bald stärkste Partei mit Kanzleranspruch werden könnte, passt bestens in dieses europäische Bild.

Man braucht schon ein ganz erhebliches Maß an politischer Naivität (oder die zynische Nonchalance der zahllosen gut dotierten Berufseuropäer), um nicht zu glauben, dass diese massive politische Machtverschiebung hin zu den EU-Gegnern nicht früher oder später deren Konstruktion verändern wird. Der teilweise Rückbau der EU ist, wenn die Wähler weiter so wählen wie derzeit, nur eine Frage der Zeit.

Mit kühlem Außenblick schreibt der Amerikaner Forbes: „Dank einer bemerkenswert miesen Führungsqualität (in der EU, Anm.) ist Europas Nachkriegsordnung in Lebensgefahr. Und das Problem ist, dass Europas Politiker keine Ahnung haben, was sie eigentlich tun sollen. Noch nie seit den 1930er-Jahren erschienen die herrschenden Klassen so hilflos, während die Ereignisse außer Kontrolle geraten.“

Forbes hat recht: Sowohl in der Finanzkrise als auch angesichts der sich immer dramatischer zuspitzenden Migrationskrise erweckt die politische Klasse nicht nur Österreichs den Eindruck, Teil des Problems und nicht der Lösung zu sein. Genauso wie eine EU, die auch nicht gerade als Institution gesehen wird, die die Probleme löst. Was natürlich immer mehr Menschen fragen lässt: Wozu brauchen wir diese Union dann überhaupt?

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2015)

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