Die europäische Lösung ist leider keine Lösung

Dass sie völlig unfähig ist, die Flüchtlingskrise zu meistern, hat die Europäische Union bereits hinlänglich bewiesen. Weiter darauf zu hoffen, wäre fahrlässig.

Der deutsche Autor Claudio Casula hat verdienstvollerweise ein kleines Wörterbuch erstellt, mit dessen Hilfe man die politisch korrekten Begriffe des aktuellen medialen Diskurses ins Deutsche übersetzen kann. Wie etwa „Übergriff“ (heißt: massive sexuelle Nötigung), „Vorfall“ (Verbrechen), „Fachkräfte von morgen“ (Analphabeten), „Willkommenskultur“ (unverantwortliche Politik zu Lasten kommender Generationen), „Islamophobie“ (Sorge vor Jihadisten-Terror) oder „Deeskalationsstrategie“ (Kuschen vor gewaltbereiten Typen).

In der österreichischen Ausgabe wären wohl noch „Grenzmanagement“ (Zaun), „Richtwert“ (Beruhigungsmittel für die Öffentlichkeit) oder „Mann“ (Täter mit Migrationshintergrund) zu erwähnen. In genau diese Kategorie von Neusprech zur Vernebelung unpassender Tatsachen gehört auch jene berühmte „europäische Lösung“ der Flüchtlingskrise, die nun von der deutschen Bundeskanzlerin bis zum jüngsten Zeitungs-Praktikanten all jene fordern, denen es nicht passt, dass Österreichs Regierung unter der Führung von Sebastian Kurz nunmehr eine Politik der robusten Sicherung der Schengen-Außengrenzen forciert; eh verdammt spät, aber eben doch.

„Europäische Lösung“ heißt nur leider, in korrektes Deutsch übersetzt, „keine Lösung“. Was nicht zuletzt daran zu erkennen ist, dass es eine (teilweise) europäische Lösung ja schon insofern gibt, als sich die EU-Staaten schon vor einem halben Jahr verpflichtet hatten, 160.000 Migranten auf die Union zu verteilen, von denen freilich heute noch mehr als 159.000 ihrer „gerechten Verteilung“ (auch so ein Wieselwort übrigens) harren.

Eine, wenn auch kleine, europäische Lösung stellt auch jenes Abkommen zwischen Athen und Ankara aus 2012 dar, demzufolge die Türkei jedes Jahr Zigtausende Migranten, denen die illegale Einreise in den Schengen-Raum gelungen ist, unverzüglich wieder zurücknehmen müsste. Eine europäische Lösung, die leider bisher nichts löste, weil die Türken diese Vereinbarung als unverbindliche Absichtserklärung verstanden, kaum war die Tinte unter dem Vertrag trocken. Eine europäische Lösung ist im Grunde auch jene Passage des Schengen-Abkommens über die Öffnung der Binnengrenzen in der Union, in der ausdrücklich die Verpflichtung jedes Mitgliedstaates festgeschrieben ist, seine Außengrenzen wirksam gegen illegale Migration zu schützen. Europäische Lösungen, das sind im Kontext mit der jetzigen Völkerwanderung (© Barbara Coudenhove-Kalergi) eben leider keine Lösungen.

Es steht zu befürchten, dass dies auch für jenen Deal zutreffen wird, in dem der Türkei als Lohn dafür, dass sie der Union einen Teil der Drecksarbeit Grenzschutz abnimmt, wahrscheinlich Visumfreiheit für ihre Bürger angeboten werden wird. Mit Recht hat der Vizepräsident des deutschen Bundestages, Johannes Singhammer, in diesem Zusammenhang gewarnt, damit werde „ein Einfallstor für weitere Zuwanderung und Flüchtlinge nach Deutschland“ geöffnet. Besonders der neue Krieg Ankaras gegen die Kurden habe „erhebliches Potenzial, neue Fluchtursachen zu schaffen“.


Vor diesem Hintergrund multipel gescheiterter europäischer Lösungen war und ist es ein außerordentlich befremdliches Ansinnen an die Wiener Regierung, einfach die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, dass das extrem Unwahrscheinliche eintritt – nämlich eine europäische Lösung, die auch wirklich eine ist. Wer das für richtig hält, der (oder die) kann genauso gut Finanzminister Schelling mit den Steuererträgen des bisherigen Jahres ins Spielcasino schicken, damit er dort das Budget saniert (wobei übrigens die Wahrscheinlichkeit, dass das gelänge, deutlich größer ist als die, dass es eine europäische Lösung geben wird).

Es wäre deshalb grob fahrlässig gewesen, hätte die Regierung angesichts der akuten Gefahr in Verzug getan, was all die Oberschlauen von ihr verlangt haben, nämlich nichts. Das Prinzip Hoffnung ist in diesem Falle keine Option.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „Ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2016)

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