Lasst uns Europäer doch über das Europa der Zukunft abstimmen!

„Die Union in ihrem Lauf / hält weder Brexit noch Volksabstimmung auf“: Dieses Motto, das die Brüsseler Mandarine ausgeben, führt direkt ins Debakel.

Unter ökologisch bewegten Zeitgenossen war einmal der Begriff Peak Oil recht beliebt. Er meint jenes Jahr, in dem die weltweite Erdölförderung ein Allzeithoch erreicht, von dem an die Produktion wieder zurückgeht. Wie es aussieht, droht der EU ein ähnliches Schicksal. Peak EU könnte jenes Jahr markieren, in dem die europäische Integration am weitesten fortgeschritten war und von dem an die Union wieder Stück für Stück rückabgewickelt wird.

Gut möglich, dass in künftigen Geschichtsbüchern für das Jahr 2014, also unmittelbar vor dem Beginn der großen Völkerwanderung, Peak EU diagnostiziert wird. Und nachher der Kollaps des Schengen-Abkommens, der Austritt des Vereinigten Königreichs und möglicherweise anderer den Anfang vom Ende der Union markierten.

Eher wenig geeignet erscheint als Gegenmittel jene Strategie, die der unglückliche EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker angesichts des drohenden Brexit und einer möglichen Desintegration der Union vorgeschlagen hat. Wie die meisten Brüsseler Mandarine möchte er nun das Zusammenschweißen der verbliebenen kontinentalen Mitgliedstaaten in Richtung eines europäischen Bundesstaats noch weiter beschleunigen.

Beschleunigt würde durch einen derartigen Gewaltakt aber nur der weitere Zerfall der Europäischen Union. „Den Sozialismus in seinem Lauf / hält weder Ochs noch Esel auf“, hatte der letzte ostdeutsche Diktator, Erich Honecker, noch im Sommer 1989 gespottet, ein paar Monate vor dem Untergang der Deutschen Demokratischen Republik. Jetzt aus purer Verzweiflung die Nationen Europas noch enger aneinanderzuketten zeugte von einer nicht unähnlichen Mentalität. „Europa in seinem Lauf / halten weder Briten noch Volksabstimmungen auf“ – das dürfte kräftig ins Auge gehen.

Es drängt sich stattdessen immer mehr der Eindruck auf, das Gründungsversprechen der EU fände keine ausreichende Zustimmung mehr unter den Elektoraten zwischen Sizilien und dem hohen Norden Schwedens. Jene „immer engere Union“, die sich Europa in den Römischen Gründungsverträgen der heutigen Union verordnet hat, ist kein wirklich mehrheitsfähiges Konzept mehr. Sie wird stattdessen von immer mehr Europäern als gefährliche Drohung verstanden, nicht nur im Vereinigten Königreich.

Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass viele Europäer das „Brüssel-Europa“ der Institutionen als ein einerseits immer mächtiger werdendes, andererseits aber angesichts der elementaren Krisen und Bedrohungen der vergangenen Jahre gleichzeitig als impotentes Gebilde wahrnehmen. Was haben wir von einer Union, fragen sich viele, an die wir immer mehr nationale Souveränität abgeben müssen, die uns aber weder in der Finanzkrise noch angesichts der Völkerwanderung nennenswert zu Hilfe gekommen ist? Und die auch sonst dann in Deckung geht, wenn es wirklich ernst wird. Eine derartige Einschätzung mag nicht hundert Prozent angemessen sein, sie ist aber nachvollziehbar. Dass etwa Anfang des Jahres nicht Brüssel, sondern die Wiener Regierung und deren Partner auf dem Balkan die illegale Massenzuwanderung eingedämmt haben, belegt den Befund bestens.

Natürlich ist angesichts von Peak EU ein Weiterwursteln wie bisher denkbar; wäre ja nicht das erste Mal in der Geschichte der Union. Zu erwägen ist freilich auch, die Frage der „immer engeren Union“ demokratisch zu lösen. Etwa, indem in allen EU-Mitgliedsländern gleichzeitig darüber abgestimmt wird, ob es in der nahen Zukunft einen europäischen Bundesstaat geben soll, wie er in der Vision der Römischen Verträge angedacht ist – oder ob die EU ein gutes Stück in Richtung der seinerzeitigen EWG zurückgebaut werden soll.

In der Folge könnten sich dann jene Staaten, die für Ersteres stimmen, zügig zu einem europäischen Staat fusionieren. Und die anderen blieben eben draußen, wie es ihre Souveräne wünschen. Jene ewig schwärende Frage wäre dann wenigstens ein für alle Mal erledigt.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2016)

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