Die Notwendigkeit einer „wohltemperierten Grausamkeit“

Soll der Ansturm von Flüchtlingen die Europäische Union nicht allmählich zerstören, wird es Zeit für ein paar harte politische Entscheidungen.

Die Anwendung „wohltemperierter Grausamkeit“ mahnte der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk im Juli 2015, vor jetzt gerade einem Jahr, ein, um den damals gerade anschwellenden Strom von Migranten aus dem Nahen Osten, Afrika und Teilen Vorderindiens zu begrenzen. Ein Begriff, der dem Denker, wenig überraschend, damals ordentlich Prügel einbrachte. Richard David Precht, die Helene Fischer unter Deutschlands populären Gebrauchsphilosophen, warf Sloterdijk „Nazi-Jargon“ vor.

Wie recht Sloterdijk mit seiner unschönen Forderung hatte und wie töricht die Replik Prechts und vieler anderer war, hat sich in den zwölf Monaten, die seit dem Juli 2015 vergangen sind, mehr als dramatisch bewiesen.

Die Schließung der Westbalkanroute für Migranten war natürlich richtig. Aber sie stellte zweifellos eine „wohltemperierte Grausamkeit“ all jenen gegenüber dar, die das Bedürfnis verspürten, illegal nach Deutschland zu reisen. Das Gleiche gilt für den wackeligen Pakt mit der Türkei zur Eindämmung der Migration. Und das Gleiche wird in noch viel höherem Maße für die Deals gelten, die Brüssel früher oder später mit Staatsgebilden wie Libyen oder dem Sudan wird aushandeln müssen, um der Völkerwanderung Herr zu werden.

Im Sudan etwa, dessen Präsident Umar al-Bashir wegen Verdachts auf Völkermord per internationalem Haftbefehl gejagt wird, hat Angela Merkel, 2015 noch die Schutzmutter der Schutzerflehenden, jüngst diskret sondieren lassen, mit welcher Hochtechnologie man behilflich sein könne, um vier Millionen Migrationswillige in der Region mit sanfter Gewalt an der Abreise zu hindern. Spanien betreibt dergleichen schon seit Längerem zusammen mit Marokko, robust in der Sache und mit ziemlich großem Erfolg.

Natürlich ist das alles durchaus „wohltemperierte Grausamkeit“. Trotzdem wird dies und noch mehr an unterschiedlich temperierten „Grausamkeiten“ im Sloterdijk'schen Sinne kommen und kommen müssen, um eine Implosion Europas zu verhindern, wie sie sich schon da und dort andeutet. Viele Europäer wehren sich freilich nach wie vor, dies zu akzeptieren. Das mag an Naivität liegen, an illusionärem Wunschdenken oder einer Unwilligkeit, die Logik der Massenmigration aus der arabischen Welt oder Afrikas zu Ende zu behirnen und sich deren Konsequenzen zu stellen. Oft wird es aber auch an einer unzulässigen Vermischung von Gesinnungsethik mit Verantwortungsethik liegen, wie das der Soziologe Max Weber definiert hat.

Gesinnungsethik ist in diesem Kontext das ausschließlich seinen ethischen Grundsätzen folgende Verhalten des Einzelnen unbeschadet der daraus resultierenden Folgen; Verantwortungsethik hingegen wird nicht nur nach ethischen Kriterien handeln, sondern immer auch die Konsequenzen zum Teil des Kalküls machen. Privatmenschen ist es daher unbenommen, sich unbeschränkt willkommenkulturell zu engagieren – ein Staat hingegen, der nicht verantwortungsethisch ins Kalkül einbezieht, welche Folgen unbegrenzte Zuwanderung haben wird, handelt schlicht und einfach verantwortungslos.

Auch wenn jener Paradigmenwechsel, der heuer in Österreich offen ausgesprochen und in Deutschland stillschweigend in der Asylfrage stattgefunden hat, natürlich primär politischer Existenzangst der herrschenden Klasse geschuldet war, so lässt er sich doch auch beschreiben als Wechsel von einer völlig verantwortungslosen staatlichen Gesinnungsethik (2015) zu angemessener Verantwortungsethik (2016).

Außenminister Sebastian Kurz folgte im Juni mit seinem Vorstoß, sich an Australiens rigider Abschottungspolitik gegenüber der Völkerwanderung ein Beispiel zu nehmen, im Grunde nur diesem dringend notwendigen Paradigmenwechsel und trieb ihn noch ein Stück voran.

Man kann das mit Sloterdijk „wohltemperierte Grausamkeit“ nennen. Im Grunde ist es freilich nichts anderes als die Einsicht in das Notwendige.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2016)

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