Traumatherapien werden wenig gegen den Terrorismus helfen

Die weitverbreitete Vorstellung, dass soziale Probleme die Ursache für den islamistischen Terror seien, ist ebenso irreführend wie wirklichkeitsfremd.

Pessimisten haben nach dem Massaker in der Pariser „Charlie Hebdo“-Redaktion vor mehr als einem Jahr befürchtet, der Terror würde in Europa forthin genauso wüten wie bis dahin in Israel. Die Pessimisten haben sich geirrt. Seither sind nämlich in Europa schon deutlich mehr Menschen Opfer islamistischen Terrors geworden als in Israel. Tel Aviv dürfte heute ein sichererer Ort sein als Brüssel oder Nizza; nicht nur für Juden.

Umso bemerkenswerter war, wie am Montagabend in einer TV-Debatte auf Puls4 Bundeskanzler Christian Kern die Ursachen des zeitgenössischen Terrors beschrieb. „Wir haben in Nizza ja gesehen, was passiert, wenn man Menschen in die Enge drängt“, meinte er da in Anspielung auf den 31-jährigen Tunesier, der vergangene Woche über 80 Menschen bestialisch ermordet hat.

Leider hat niemand den Bundeskanzler gefragt, von wem und wodurch der Täter so „in die Enge gedrängt“ worden ist, dass ihm praktisch nichts anderes übrig geblieben ist, als ein Blutbad anzurichten. Waren es die Leistungen des französischen Sozialstaates, die den tunesisch-stämmigen Mann derart zur Verzweiflung trieben? War es die Rede- und Meinungsfreiheit, die er in Frankreich genoss, obwohl er zumindest am Schluss seines Lebens Islamist gewesen sein dürfte? Oder doch die vielfältigen dortigen Bildungsmöglichkeiten auch für Migranten, die ihn „in die Enge gedrängt haben“?

Bedauerlicherweise bedient so auch der eloquente Kanzler ein Stereotyp, das da lautet: Wir, der Westen, sind irgendwie selbst schuld am muslimischen Terrorismus, weil wir uns in irgendeiner Art „zu wenig um die gekümmert haben“. Oder, wie Gudrun Harrer dieser Tage im „Standard“ schrieb: „Diese Täter sind [. . .] ein Phänomen und Produkt unserer eigenen Gesellschaften.“ Nicht der Täter ist schuldig, sondern „die Gesellschaft“, die ihn vermeintlich zum Täter gemacht hat.

Würde das stimmen, ginge in Europa jeden Tag eine Bombe hoch, die ein illegaler chinesischer Küchenarbeiter in Turin, ein sozial deklassierter Roma in Bukarest oder ein indischer Arbeitsloser im Londoner Osten gezündet hat, weil er „in die Enge gedrängt“ worden ist.

Da dies aber zum Glück nicht der Fall ist, deutet sehr viel darauf hin, dass eben nicht eine allfällige soziale Benachteiligung zentrales Motiv des europäischen Terrors ist, sondern ein anderer Faktor, den nicht zu erkennen schon ein hohes Maß an intellektueller Blindheit erfordert.

Dass sich ein Teil des politischen wie medialen Establishments in Westeuropa noch immer an der unhaltbar gewordenen Fiktion vom zeitgenössischen muslimischen Terrorismus als primär sozialer Frage festhält, könnte schlimmstenfalls zu einem weiteren Verlust an Menschenleben führen. Denn der Kampf gegen diesen Terrorismus kann sicher nicht gewonnen werden, solange nicht dessen Ursachen klar diagnostiziert und ausgesprochen – und dann angemessen polizeilich, nachrichtendienstlich, militärisch und strafrechtlich adressiert werden. Zu glauben, dem Problem sei mit einer Division Sozialarbeitern beizukommen, vergeudet nur Zeit und Geld und steht einer echten Lösung im Weg, soweit die überhaupt möglich ist.

Diese Lösung, so hässlich und gewöhnungsbedürftig sie auch sein wird, muss eher rasch gefunden werden. Etwa, indem Israels robuste Anti-Terrormaßnahmen teilweise kopiert werden (siehe auch „Quergeschrieben“ vom 18. 7.). Denn dass sich die Europäer einfach daran gewöhnen, in Fußgängerzonen, Zügen oder Theatern regelmäßig abgeschlachtet zu werden, ist eher nicht zu erwarten und auch nicht wünschenswert. Journalisten, die jetzt in sozialen Medien vorrechnen, wie gering statistisch die Gefahr ist, einem Terrorakt zum Opfer zu fallen, zeigen damit vor allem, wie weit sie sich bereits vom wirklichen Leben losgelöst haben.

„Wir sind am Rande eines Bürgerkriegs“, befürchtete dieser Tage der französische Geheimdienstchef, Patrick Calvar. Mit Traumatherapien für Jihadisten wird der eher nicht zu verhindern sein.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2016)

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