Die Selbstbeschädigung der EU: Wo Orbán recht hat, hat er recht

Die EU-Kommission möchte den Familienbegriff im Asylrecht noch großzügiger auslegen und damit den Familiennachzug noch mehr erleichtern. Geht's noch?

Ungarns Regierungschef, Viktor Orbán, schrieb jüngst in einem Essay für die „FAZ“: „Wenn man in der DDR auch nur vorsichtig versuchte, offensichtliche Probleme zur Sprache zu bringen, so wurde dem Zweifelnden gegenüber ein dummes, aber unanfechtbar erscheinendes Argument hervorgebracht: ,Genosse, bist du gegen den Frieden?‘ Die EU, die eine Reihe von Krisen durchmacht, kann sich der kritischen Erörterung von Grundfragen nicht damit entziehen, dass diejenigen, die Zweifel an diesem Projekt haben, die Soldatenfriedhöfe besuchen sollten. Für den Fortbestand der EU reicht die historische Wahrheit nicht aus.“

Damit hat der streitbare Ungar vollkommen recht. Junge Menschen immer nur mit dem Argument des angeblich alternativlosen „europäischen Friedensprojekts“ bei der EU-Stange halten zu wollen wird auf Dauer nicht einmal bei den schlichtesten Gemütern funktionieren. Da braucht es schon deutlich bessere Argumente. Sonst könnte es nämlich durchaus sein, dass der Exit der Briten aus der Union nicht der einzige Abgang bleibt.

Umso bemerkenswerter ist, wie die Europäische Kommission, die „Hüterin der Verträge“, angesichts dieser um sich greifenden Legitimationskrise der Union reagiert. Da ist sie erst vor ein paar Tagen mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten, dass künftig im Asylrecht der Begriff der Familie weiter als bisher gefasst werden soll, dass also nicht mehr nur Ehepartner und Kinder als Familie gelten sollten, sondern auch Geschwister.

Damit würde natürlich der Kreis jener Personen, die im Schlepptau eines anerkannten Asylanten legal in die EU einwandern dürfen, signifikant größer werden. In Österreich etwa kommt erfahrungsgemäß auf zwei positive Asylbescheide ein Angehöriger, der zusätzlich legal ins Land kommen kann. Genau das brauchen wir jetzt, völlig klar.

Dementsprechend kühl ist der Vorschlag auch von halbwegs luziden Politikern aufgenommen worden. „Das Ansinnen der EU-Kommission, den Begriff der Kernfamilie zu erweitern, ist nicht hinnehmbar. [. . .] Außerdem würden alle Bemühungen, die bisher zur Eindämmung der Zuwanderung getroffen wurden, im Nachhinein konterkariert“, meint etwa Stephan Mayer (CSU), innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im deutschen Bundestag.

Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen. Da wird ganz Europa angesichts der neuen Völkerwanderung von einem politischen Rechtsruck erfasst, der unter anderem massiv gegen die EU gerichtet ist – und der Europäischen Kommission fällt als Antwort darauf nichts anderes ein, als die Idee, die Anzahl der Migranten noch weiter zu erhöhen. Was ja eine logische Konsequenz ihres Vorschlags wäre.

Ganz abgesehen davon, dass dies inhaltlich problematisch wäre, fragt man sich da auch: Welches Kraut muss man eigentlich rauchen, um in einer derart heiklen Situation, in der mittelfristig die schiere Existenz der Union gefährdet ist, ohne Not die unpopulärste aller nur denkbaren unpopulären Maßnahmen zu befürworten?

Einer ähnlichen politischen Unlogik folgte ja auch die erste Reaktion Brüssels auf den Putsch von oben, der die Türkei gerade zügig zur islamischen Republik Erdoğanistan umbaut. Als wäre nichts geschehen, hielt die Union ihr Angebot, die Visumpflicht für Türken aufzuheben, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden, weiter aufrecht. Dass sie damit zumindest indirekt Erdoğan dabei behilflich ist, seine Gefängnisse mit Zehntausenden politisch Andersdenkenden aufzufüllen, scheint dabei nicht sonderlich zu irritieren. Bundeskanzler Christian Kern hat in diesem Zusammenhang übrigens völlig recht, wenn er einen Abbruch der Beitrittsgespräche fordert.

Eine Union, die so selbstbeschädigend agiert, untergräbt ihre Daseinsberechtigung. Ihren Kritikern bloß den Besuch von Soldatenfriedhöfe nahezulegen wird die Probleme nicht lösen. Für den Fortbestand der EU reicht die historische Wahrheit nicht aus. Da hat Orbán recht.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2016)

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