Rette sich in Europa, wer kann, wenn wieder Gerechtigkeit droht

Wenn Politiker wie Christian Kern mit dem G-Wort hausieren gehen, sollten die Steuerzahler vor allem eines tun: ihre Brieftaschen festhalten.

Europa, so formulierte es Bundeskanzler Kern jüngst in einem viel beachteten Gastkommentar für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, müsse „wieder gerecht werden“. Ja, eh, dem wird wohl kein Mensch, der halbwegs bei Sinnen ist, widersprechen wollen. Dass Europa etwa wieder ungerecht werden müsste, fordern ja nicht einmal die wenigen noch verbliebenen Anhänger einer freien Marktwirtschaft in diesem Land.

Das Problem mit der „Gerechtigkeit“ und vor allem der vom Bundeskanzler in diesem Zusammenhang angesprochenen sozialen Gerechtigkeit ist freilich, dass sie im Grunde alles und nichts bedeuten kann und ungefähr so fest umrissen ist wie ein Luftballon ohne Hülle. Nicht zufällig hat der österreichische Ökonomie-Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek die „soziale Gerechtigkeit“ als „Wieselwort“ verspottet: „So wie das kleine Raubtier angeblich aus einem Ei allen Inhalt heraussaugen kann, ohne dass man dies nachher der leeren Schale anmerkt, so sind die Wieselwörter jene, die, wenn man sie einem Wort hinzufügt, dieses Wort jedes Inhalts und jeder Bedeutung berauben.“

Und wie wird Europa, wenn es nach Christian Kern geht, wieder „gerecht“? Indem endlich die sogenannte Sparpolitik der vergangenen Jahre in der EU beendet wird. Denn: „Viele Menschen in Europa haben nachhaltig unter dieser Politik gelitten, ebenso wie ihr Glaube an das Wohlstandsversprechen der europäischen Einigung“, schreibt Kern.

Jetzt wollen wir kurz darüber hinwegsehen, dass dank der unglaublich brutalen „Sparpolitik“ der EU die Staatsschulden seit 2005 von 60,6 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 86,8Prozent (2015) angestiegen sind, und zwar nicht nur der Bankenkrise wegen. Sparen, also weniger ausgeben, als man einnimmt, ist unter den europäischen Staaten – mit Ausnahme Deutschlands – ein praktisch nie zu beobachtendes Phänomen; etwas weniger neue Schulden zu machen als im Vorjahr gilt in diesem Milieu schon als sparen.

Die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt uns verlässlich: Wenn sozialdemokratische Politiker – aber nicht nur sie – eine Abkehr vom sogenannten Sparkurs mit der Forderung nach „mehr öffentlichen Investitionen“ in einem Atemzug nennen, sind noch höhere Staatsschulden die zwingende Konsequenz. Wegen der Gerechtigkeit natürlich.

Ob das auch wirklich gerecht, gar sozial gerecht ist, hängt freilich vom Standpunkt des Betrachters ab. Wenn morgen die letzten allfällig noch vorhandenen ökonomischen Schamgrenzen fallen, was sich dank Frankreich, Portugal, Spanien und demnächst Italien eh schon ankündigt, und wieder ungeniert Schulden aufgetürmt werden, werden das sowohl die regierenden Politiker als auch deren Wähler als durchaus sozial gerecht empfinden. Letztere, weil sie dann mit Geld, das leider nie verdient worden ist, bei Laune gehalten werden, Erstere, weil sie dafür gewählt werden. Weniger gerecht hingegen ist das zum Beispiel gegenüber den Jungen, denen auf diese Art und Weise ein noch schwererer Schuldenrucksack umgeschnallt wird.

Da die Schulden von heute die Steuern von morgen sind, werden die Jungen eines Tages die Rechnung für das Herstellen vermeintlicher „sozialer Gerechtigkeit“ präsentiert bekommen. Was freilich den heute agierenden Politiker mit einer politischen Restlebensdauer von höchstens zehn Jahren herzhaft gleichgültig sein kann.

Griechenland hat ja bekanntlich bis zum Kollaps seiner Staatsfinanzen besonders darauf geachtet, nicht zum Opfer einer tödlichen Sparpolitik zu werden – gleichsam leuchtendes Vorbild einer nicht unter Austerität leidenden Volkswirtschaft. Dass sie vom deutschen oder österreichischen Steuerzahler vor dem Staatsbankrott gerettet worden sind, finden die meisten Griechen gerecht, wohingegen die Steuerzahler der Geberländer das etwas anders sehen.

Dass „Europa wieder gerechter werden“ soll, kann daher durchaus als gefährliche Drohung verstanden werden.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2016)

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