Kann Europa Sicherheit im Tausch gegen Freiheit geben?

Die Auseinandersetzung um „mehr“ oder „weniger“ Europa ist so alt wie jene zwischen Staat und Individuum.

Angela Merkels Reaktion auf die Europa-Rede David Camerons ist so vernünftig, dass es fast wehtut: Ja, Herr Cameron habe recht damit, dass es in der Union Reformbedarf gebe, man müsse und werde mit ihm darüber reden, und am Ende werde es, wie immer in Europa, darum gehen, Kompromisse zu finden. Was, wenn nicht?

Merkels Mutti-Reaktion auf den ungezogenen Jungen jenseits des Kanals erinnert schmerzlich an eine Erhard Busek zugeschriebene Charakterisierung Österreichs als jenes Land, in dem man den Kompromiss schon kennt, bevor klar ist, worin der Konflikt eigentlich besteht. Wenn man den Vertretern der europäischen Moralfraktion glauben darf, besteht der Konflikt darin, dass Cameron erstens seinen Kopf retten und zweitens die Londoner „Finanzhaie“ schützen will, während die Guten in Brüssel für „mehr Europa“ plädieren, damit zwischen Kanal und Ural endlich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit herrschen mögen. Was, wenn nicht?

Was, wenn der scheidende tschechische Präsident Václav Klaus recht hätte mit dem, was er vergangene Woche auf einem Kongress in Wien sagte: nämlich, dass sich die Union mit ihren späten Reaktionen auf die Fehlkonstruktion der Währungsunion nicht auf dem Weg aus der Krise, sondern tiefer hinein in die Sackgasse befindet? Was, wenn „mehr Europa“ nicht die Lösung, sondern das Problem ist?

Wir werden es nie erfahren, weil es darüber nicht einmal eine Debatte gibt. Ironischerweise funktioniert die europäische Debattenverweigerung exakt nach dem Muster, das die unter den Guten so verhasste Margaret Thatcher seinerzeit vorgegeben hat: TINA, There Is No Alternative. Man erkennt das Muster schon an der Nomenklatur: „Pro-Europäer“ ist, wer sein Glaubensbekenntnis zu Zentralisierung, Transferunion und Eurobonds fehlerfrei aufsagen kann, als „Anti-Europäer“ gelten jene, die neben der Kooperation auch den Wettbewerb als Quelle von Wohlstand und Fortschritt sehen. Wettbewerb gilt den Befürwortern von „mehr Europa“ als letztes, verachtenswertes Relikt des nationalstaatlichen Prinzips, dessen endgültige Überwindung der Hauptzweck des europäischen Einigungswerks sei. So, als ob wirtschaftlicher Wettbewerb naturgesetzlich im Krieg enden müsste. Was, wenn nicht?

Was, wenn „Renationalisierung“ nicht den Zerfall des Kontinents in Chaos und Blutvergießen zur Folge hätte, sondern die Wiedergewinnung der ökonomischen und politischen Handlungsfähigkeit seiner Staaten, die eine verstärkte europäische Kooperation im internationalen Wettbewerb wirksamer werden lässt als der defensive Zentralismus, der gegenwärtig die europäische Debatte bestimmt?

Die Rede von der „Überwindung des Nationalstaates“ meint heute im Kern die Überwindung von Wettbewerb und Freiheit. Sie ist der Versuch, Europas Bürger davon zu überzeugen, dass ihnen zentrale, supranationale Institutionen Sicherheit im Tausch gegen Freiheit geben könnten.

Die alte Auseinandersetzung also zwischen jenen, die dem Staat den Vorrang vor dem Einzelnen geben wollen, und jenen, die die Rolle des Staates auf wenige, klar definierte Aufgaben beschränkt wissen wollen. Sie ist weder gefährlich, noch kann eine der beiden Seiten für sich eine herausgehobene moralische Position in Anspruch nehmen. Was spricht also dagegen, sie offen auszutragen und am Ende eine demokratische Entscheidung darüber zu treffen?

Zum Autor


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Michael Fleischhacker (*1969) arbeitete als
Journalist bei der
„Kleinen Zeitung“ und beim „Standard“, ab 2002 bei der „Presse“.
Von 2004 bis 2012 Chefredakteur der „Presse“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2013)

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