Über die Phantomschmerzen der Nachkriegsgeneration

Große Koalitionen bergen das Risiko, die Tendenz zur Politikverdrossenheit zu ver- stärken. Das befeuert die Suche nach originellen Thesen zu deren Verharmlosung.

In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ hat gestern der Berliner Korrespondent des Blattes den bemerkenswerten Versuch unternommen, dem zunehmenden politischen Kulturpessimismus von uns älteren Semestern etwas entgegenzusetzen. Den dazugehörigen Narrativ referierte er wie folgt: „Der Mehltau des politischen Desinteresses und der Politikverdrossenheit“ hat begonnen, sich über Deutschland zu legen, und „in den kommenden Jahren, mit der erdrückenden Großen Koalition und der ewig gleichen Präsidialkanzlerin an der Macht“, wird er noch dicker werden und das ganze Land bedecken, „es wird in einen Zustand der allgemeinen Gleichgültigkeit versinken“.

Wird es? Wird es nicht, sagt der Dialektiker, denn – Ironie/Auflösung! – es sei zwar tatsächlich so, dass sich die jüngere Generation deutlich weniger für Politik interessiere als die unsrige und die vor uns, aber das sei erstens biografisch erklärbar – die politikinteressierten Oldies seien Menschen, „die den Nationalsozialismus und den Krieg, und sei es als Kinder, noch erlebt hatten, die einen neuen Staat aufbauten, als Achtundsechziger gegen das Establishment protestierten, und die im Zeichen des Ost-West-Konflikts samt Wettrüsten groß wurden“ – und zweitens kein Problem. Denn: „Politik ist wichtig. Aber sie ist nicht alles im Leben.“ Über das „Schreckgespenst eines entpolitisierten Landes“ könne nur lamentieren, wer „die überideologisierte, überpolitisierte Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte zum Maßstab“ nehme, der kulturpessimistische Politikinteressierte sei wie „der Kranke, der nach der Gesundung seiner Krankheit nachtrauert“.

Als jemand, der ebenfalls dazu neigt, das Gezeter über die Politikverdrossenheit der Jugend für einen Phantomschmerz von aus dem Leim gegangenen Fauteuil-Revolutionären zu halten, begann ich zunächst zustimmend zu nicken und mich darüber zu freuen, dass man sich an Deutschlands erster Adresse für Bedenken aller Art zu einem entspannten Umgang mit den tendenziell entpolitisierenden Auswirkungen der schlimmsten aller demokratischen Regierungsformen entschlossen habe.

Bald aber blieb mir gewissermaßen das Nicken im Genick stecken. Erstens, weil ich mich fragte, was genau mir jemand mit dem Satz „Politik ist nicht alles im Leben“ sagen will außer, dass es nichts gibt, was alles im Leben ist, außer man wäre Mönch oder auf eine sonstige Weise außergewöhnlich begabt und/oder krank.

Auch mit der Idee, dass die augenscheinliche Entpolitisierung einer ganzen Generation nicht ein Symptom der Erkrankung, sondern eines der Gesundung sei, konnte ich mich sofort anfreunden: Mehr als um die offensiv Politikverdrossenen habe ich mir immer schon um die geistige Fitness jener Sorgen gemacht, die von der Art Politik, mit der wir seit geraumer Zeit konfrontiert werden, nicht verdrossen sind.

Aber auch an diesem Punkt war meinem Behagen darüber, wieder einmal spektakulär und umfassend recht behalten zu haben, nur kurze Dauer beschieden. Denn ich begann mich zu fragen, ob die vom Autor vertretene These, wir hätten es während der vergangenen Jahrzehnte mit einer „überideologisierten“ und „überpolitisierten“ Gesellschaft zu tun gehabt, erstens haltbar ist, und damit zweitens eine entspannte Interpretation des Rückzugs einer ganzen Generation aus den Regionen des Politischen erlaubt.

Ich fürchte, die Antwort lautet Nein. Denn wir haben es überwiegend nicht mit einer Reaktion auf die politische Kultur des Übergriffs und der Überregulierung zu tun, sondern mit einer kollektiven Unzuständigkeitserklärung auf der Grundlage der Rundumversorgung. Die jungen Leute, die sich angeekelt von „der Politik“ abwenden, wollen nicht ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand nehmen, sondern erwarten, bei Aufrechterhaltung ihrer Ansprüche in Ruhe gelassen zu werden.

Wahrscheinlich sollte ich beizeiten meine Kriegsbiografie kritisch aufarbeiten.

E-Mails an:office@michaelfleischhacker.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.