Reden wir unsere Kinder krank? Ein gut gemeinter Teufelskreis

Noch nie war die Liste seelischer Erkrankungen länger als heute. Das Netz psychologischer Diagnosen wird enger und enger. Der letzte gesunde Mensch wird bald verschwunden sein.

Die Frage war simpel. „Is Insanity on the Increase?“ lautete der Titel eines Aufsatzes im „British Medical Journal“ vom Jänner 1872. Der Autor, Henry Maudsley, führender Psychiater und Bekannter Darwins, fügte seiner Frage nach dem angeblich zunehmenden Irrsinn sofort eine Beobachtung hinzu: „Die öffentliche Meinung ist zweifellos“, schrieb er, „dass die Verhaltensstörungen im Lande deutlich zugenommen haben.“

Dieses 140 Jahre alte Stimmungsbild mutet erstaunlich modern an. Heute vergeht keine Woche ohne Horrormeldung: Jedes vierte Kind brauche Therapie, weil Depressionen, Angst und Essstörungen zugenommen hätten. 1993 gaben deutsche Apotheken an „Zappelphilippe“ 34 Kilo Ritalin ab, 2008 über 1,5 Tonnen. Schon Babys sollen Burn-out haben. Wir sind eine Gesellschaft der Erschöpften. Alarmismus hat Konjunktur.

Um den angeblich dramatischen Anstieg der Seelenpein zu erklären, müssen wir zurückblättern. Im Zweiten Weltkrieg sorgte sich die US-Army um die Belastbarkeit ihrer Soldaten und erstellte intern einen Katalog psychischer Krankheiten. Der wurde nach dem Krieg als „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-I, 1952) veröffentlicht und zählte auf 130 Seiten 106 geistige Störungen auf. Die Homosexualität hatte man dazugerechnet. Sechzig Jahre später ist das DSM-IV-TR, die aktuelle Ausgabe der „Bibel psychischer Erkrankungen“, auf 886 Seiten und 296 Krankheitsbilder angewachsen – eine Entwicklung, vor der Psychiater warnen. Die Homosexualität gilt zwar nicht mehr als Krankheit, aber Jähzorn, koffeinbedingte Schlafstörungen und zu schwaches oder zu starkes Triebleben gehören dazu.

Blättert man im Handbuch der „Mental Disorders“, ist es kaum möglich, Menschen ohne Störung zu entdecken. Wie die „lang anhaltende Trauer nach dem Tod eines Familienmitglieds“. Keine Frage: Traurigkeit kann pathologisch werden. Aber ist nicht gerade der krank, der beim Tod eines Verwandten keine Trauer empfindet?

Besonnene Seelenärzte warnen vor ausufernder Diagnostik. Sie könne fatal werden, wenn es um Kinder geht. Besorgte Eltern suchen manchmal bei ersten Schwierigkeiten psychologischen Rat, erhalten Diagnosen über „Teilleistungsschwächen“, die sie Schulen präsentieren, wo sie als Beweis für „immer schwierigere Kinder“ aufgegriffen werden. Es ist ein gut gemeinter Teufelskreis, in dem eine Gruppe übrig bleibt: pathologisierte Kinder. Auch Usain Bolt und Michael Phelps galten als hyperaktiv. Bolt lief, Phelps bekam mit neun Ritalin. Mit elf setzten die Eltern das Medikament ab und ließen das Kind schwimmen. Der Rest ist Sportgeschichte.

Natürlich kann man nicht jedem Kind ein Schwimmbecken schenken. Aber vielleicht würden mehr Sport, Musik, geduldige Zuwendung und das Warten „bis der Knopf aufgeht“ Jugendlichen eher helfen als der Griff zum Rezeptblock und ein immer enger werdendes diagnostisches Netz, das Jahr für Jahr mehr Kinder erfasst.

„Es mag sein“, schrieb Maudsley 1872, „dass wir heute mehr Erkrankungen diagnostizieren als zu jenen Zeiten, in denen unsere Vorfahren mit der Königin Boadicea in die Schlacht gezogen sind“ und schloss: „Heute werden Menschen als ,gestört‘ erklärt, bei denen man früher nie daran gedacht hätte. Der Prozentsatz der Unzurechnungsfähigen hat sich nicht erhöht. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass er steigt.“ Nach Sätzen wie diesen sucht man heute vergebens.


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Kurt Scholz war

von 1992 bis 2001 Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit 2011 ist er

Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2012)

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