Die Ferien als Nachdenkphase: Was kann Schule wirklich leisten?

Die Erwartungen an die Lehrerinnen und Lehrer sind heute widersprüchlicher denn je. Was fehlt, ist eine gesellschaftliche Übereinkunft zum "Wozu" der Schule. Ein Minimalkonsens ist nicht in Sicht.

Mehr als 30 Jahre ist es her, dass ich eine Studie des Sozialforschers Ernst Gehmacher betreuen durfte: „Die Schule im Spannungsfeld von Schülern, Eltern und Lehrern“. Gehmacher und der damalige Unterrichtsminister Fred Sinowatz hatten ein feines Gespür dafür, wie sehr sich in den 1970er-Jahren der Konsens in Erziehungsfragen geändert hatte. Viele elterliche Maximen der Nachkriegsjahre galten nicht mehr. Gefragt war eine andere Pädagogik. Gefragt waren Mitgestaltungsmöglichkeiten.

Wir wissen alle, wie diametral seither die Erwartungen an die Schule auseinandergegangen sind – so sehr, dass heute kaum ein Minimalkonsens darüber besteht, was die Kernaufgaben der Schule sind. Immer häufiger finden sich Lehrerinnen und Lehrer mit Ansprüchen konfrontiert, die einander diametral widersprechen. Die Schule ähnelt damit mehr und mehr einem Kind, das am linken Ohr nach links und am rechten nach rechts gezogen wird und mit dem alle, die herumzerren, unzufrieden sind, weil es sich nicht bewegt.

Selbst das, wofür die Schule gelegentlich gelobt wird, trägt den Keim des Konflikts in sich. Als ich neulich einen Zeitungsartikel über ein ausgezeichnetes Schulprojekt gegen das Komasaufen las, freute ich mich. Im selben Atemzug aber stellt man sich die Frage, was von der Schule noch alles erwartet wird. Gesundheitsförderung ist, kein Zweifel, ein Unterrichtsprinzip. Glaubt man aber wirklich, dass die Lehrer einerseits für jedes Kind eine individuelle Begabungsförderung garantieren und gleichzeitig, quasi in einem Aufwaschen, das Komasaufen (und einige Zeiterscheinungen mehr) erfolgreich bekämpfen können? Sind die Erwartungen, die man an die Schulen stellt, noch realistisch?

In den vergangenen Jahrzehnten sind den Lehrerinnen und Lehrern mehr und mehr soziale Aufgaben zugewachsen. Sie haben gegen Widerstände Migrantenkinder gefördert. Sie sind trotz fehlender Infrastruktur mit behinderten Jugendlichen menschlich umgegangen. Sie haben in einem separierenden Bildungssystem Umstiege in weiterführende Schulformen unterstützt. Vor allem aber haben sie gesellschaftliche Gegensätze gemildert.

Wenn uns Wutausbrüche wie in den Pariser Banlieue oder den Vororten von Stockholm erspart geblieben sind, dann liegt das vielleicht an der Arbeit der Sicherheitsbehörden. In vorderster Linie aber waren es geduldige Lehrer, die soziale und kulturelle Kontraste abgebaut haben. Die öffentliche Anerkennung dafür ist leise.

Nur eine kurzsichtige Politik reduziert alle offenen Schulfragen auf die Vermittlungsfähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer. Was fehlt, sind nicht nur „mehr und bessere“ Pädagogen, sondern eine gesellschaftliche Übereinkunft zum „Wozu“ der Schule. Das eigentliche Versagen der Bildungspolitik ist, dass sie keinen Konsens darüber schafft, was Schule leisten soll, was nicht. Die Antwort „Mehr“ ist eine Leerformel.

In der Reformperiode der 1970er-Jahre wurden die hohen Erwartungen an das Schulsystem aufgezeigt und diskutiert. Heute ist das „Spannungsfeld Schule“ noch widersprüchlicher geworden. Jene, die darin arbeiten, haben Erholung verdient. Die Bildungspolitiker aber sollten die Sommerpause anders nützen: für einen langen, gemeinsamen Förderkurs.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2013)

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