Zur Verteidigung der Politik: Beobachtungen eines Spießbürgers

Irgendetwas läuft da falsch: In ORF-Radiointerviews wird der Staatsmann verhört, dem Künstler dagegen hofiert. Muss Vizekanzler Spindelegger erst in Tierkadavern wühlen, um respektvoll befragt zu werden?

„Herr Spindelegger“, klang es aus dem „Mittagsjournal“, und ich wunderte mich – nicht über die Interviewerin, sondern über mich selbst. Schlagartig hatte mir die Anrede „Herr Spindelegger“ bewusst gemacht, wie sehr es mir zur zweiten Natur geworden ist, Menschen in ihrer Funktion anzusprechen.

Ich hätte, ohne viel nachzudenken, den stellvertretenden Regierungschef als „Herr Vizekanzler“, „Herr Bundesminister“ oder als „Herr Dr. Spindelegger“ angeredet – so, wie man in den USA „Mr. President“ sagt oder einen Kardinal nicht als „Herr Schönborn“, sondern als „Herr Kardinal“ oder „Eminenz“ anredet und zum Präsidenten einer Glaubensgemeinschaft nicht „Herr Deutsch“, sondern „Herr Präsident“ sagt. Auch „Herr Fischer“ käme mir nicht über die Lippen. Tempora mutantur. Vermutlich spricht man heute im ORF den eigenen Generaldirektor mit „Herr Wrabetz“ an.

Aber natürlich geht es im Leben nicht um Titel, sondern um Höflichkeit. Auch dafür lieferte Ö1 ein schönes Beispiel. Wenige Stunden nach der Befragung Spindeleggers wurde ein Gespräch mit Hermann Nitsch gesendet. Der Interviewer war von ausgesuchter Höflichkeit. Nie unterbrach er den Meister, nie korrigierte er den Professor, und wenn Kritik zitiert wurde, geschah es in einer Weise, die keinen Zweifel an der Identifikation des Interviewers mit den Ansichten des Künstlers aufkommen ließ.

Obwohl ich nicht der klassische ÖVP-Wähler bin, dachte ich mir: Irgendetwas läuft da falsch. Der Staatsmann wird verhört, dem Künstler hofiert. Muss unser Herr Vizekanzler erst in Tierkadavern wühlen, um respektvoll befragt zu werden? Soll man dem ORF vorschlagen, dass Politikerinterviews besser von freundlichen Kulturjournalisten, Künstlergespräche ab sofort von bohrenden Politikredakteuren gemacht werden?

Seit Jahren vergleiche ich, wie Generaldirektoren und wie Politiker interviewt werden. Herren wie Randa, Konrad, Treichl und Co. werden als Philanthropen porträtiert, die permanent nach dem Gemeinwohl streben, denen aber ihr aufreibendes Berufsleben leider nicht genug Zeit für ihre tiefen humanitären und kulturellen Vorlieben lässt. Seit Jahren denke ich mir beim Durchblättern der Magazine: Wie gut hätten es Politikerinnen und Politiker, wenn sie Autos oder Kreuzfahrtschiffe wären. Im Politikteil kritisiert man die Politik, hinten, wo die Inserate sind, schwärmt man von Boliden und türkisblauen Meeresbuchten.

Einem Extremsportler wird verziehen, was er zur Kindererziehung („gesunde Ohrfeige“), der Demokratie („gemäßigte Diktatur“) oder den Steuern („das Finanzamt hat mich in die Schweiz vertrieben“) absondert. Die Hofberichterstattung ist in die Society-Kolumnen, die Sport-, Motor- und Reiseseiten gewandert. Hinten im Blatt schwärmt man von Fiona, Flick und Francesca, vorn will man eine Mischung von Bob Woodward und Karl Kraus sein.

Die Frage, ob ein Politiker oder eine Politikerin vielleicht auch ein anständiger Mensch ist, gilt als unprofessionell: Es zählt der Generalverdacht. „Jagd sie wie die Hasen“, hatte ein Kolumnist einst gefordert. Ich fürchte, ich sehe das anders: Ich würde dem Herrn Vizekanzler oder dem Bundeskanzler einen Gebrauchtwagen abkaufen und Frau Glawischnig mein Fahrrad leihen. So viel Vertrauen verdienen sie allemal – und etwas mehr Respekt auch.


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Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001 Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2013)

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