Von guten und bösen Mimen Das Parlament als Bühne

Schon vor mehr als 100 Jahren wusste man die schauspielerischen Leistungen von Politikern zu würdigen. Arthur Schnitzler schrieb darüber in „Der Weg ins Freie“.

Die Nachrufe aller Parteien auf die zu früh verstorbene Parlamentspräsidentin zeigten viel Mitgefühl, Wertschätzung und Sympathie, kurz: jene Haltungen, die man im politischen Alltag so oft vermisst. Eine Woche lang schimmerte durch, dass Politikerinnen und Politiker offenbar doch mehr verbindet, als man nach ihren Debatten im Parlament vermutet. Eine Woche lang bedurfte es keiner Ordnungsrufe, fehlten Polemiken, Untergriffe und Unterstellungen. Es herrschte Respekt.

Träten Mandatare immer so auf, würden sich nicht so viele Menschen von der Politik abwenden. Der Parlamentarismus hätte mehr Ansehen, würden die Abgeordneten immer so viel Stil zeigen wie nach dem Ableben ihrer Präsidentin. Wahrscheinlicher aber ist, dass an den Rednerpulten bald wieder die alte Kraftmeierei herrscht, die Lust am Beschädigen des anderen. Nirgendwo ist sie größer als in der Politik.

Das Paradoxe ist nur, dass diese Destruktivität von Abgeordneten ausgeht, die persönlich miteinander meist recht freundlich umgehen. Privat ist man durchaus nicht spinnefeind, aber auf der Bühne des Parlaments gibt man den Haudegen: Es ist eine Tartüfferie, die man dem eigenen Anhang vorspielt.

Dieses Phänomen ist freilich nicht neu. Vor mehr als hundert Jahren hat Arthur Schnitzler einen Roman darüber geschrieben. In „Der Weg ins Freie“ zeigt er alle politischen Schattierungen des Wiener Fin de Siècle: den untergehenden Liberalismus, den Deutschnationalismus, die aufstrebenden Christlichsozialen, die Sozialdemokratie.

Bei einer Abendgesellschaft kommt man auf einen Vorfall im Parlament zu sprechen. Ein junger Mediziner, Spross liberaler Eltern, gibt den Gastgebern bekannt, dass er soeben als Abgeordneter zurückgetreten sei. „Ich will wieder als Arzt arbeiten“, meint er: „Ich kehre zu meiner alten Liebe, der Bakteriologie, zurück. Es ist eine reinlichere Beschäftigung als die Politik.“ Natürlich wollen alle den Grund für seinen plötzlichen Rückzug wissen. Bereitwillig erzählt er, wie er im Parlament eine von der Justiz verfolgte Frauenpolitikerin verteidigt habe.

Die Debatte sei hitzig gewesen. „Zuerst hat man“, berichtet der Zurückgetretene, „versucht, mich mit Schreien und Schimpfen totzumachen. Und dann kam das kräftigste Argument: Sie können es sich ja denken.“ „Nun?“, fragt man ihn ungeduldig. Zögernd berichtet der Mediziner: „Ruhig, Jud! Halt's Maul!“, habe man ihm entgegengeschrien, „Jud! Kusch!“ Die Abendgesellschaft ist entgeistert: Wegen dieser Zwischenrufe habe er sein Mandat niedergelegt? Er sei doch über solche Insulte erhaben! „Nein, deshalb nicht“, fährt der Ex-Mandatar fort.

Der Grund für den Rücktritt sei das, was er nach dem Schluss der Debatte erlebt habe. „Nach meiner Rede“, berichtet er, „begab ich mich ins Büfett. Dort begegnete ich dem Volksvertreter, der während meiner Rede der Allerlauteste gewesen war. Wie er mich sieht, stellt er sein Glas hin, lächelt, nickt mir zu, als wäre nichts geschehen, und grüßt mich heiter: ,Habe die Ehre, Herr Doktor, auch eine kleine Erfrischung gefällig?‘“ Da erst habe er von der Politik genug gehabt.

Unglaublich“, empört sich die Abendgesellschaft nun. „Unglaublich? Nein, österreichisch. Bei uns ist ja die Entrüstung so wenig echt wie die Begeisterung. Nur die Schadenfreude und der Hass auf das Talent, die sind echt bei uns.“

Schnitzlers „Der Weg ins Freie“ erschien 1908. „Selten ist ein Buch freudiger erwartet worden als dieses“, rühmte die „Neue Freie Presse“ den Roman auf der Titelseite: Schließlich halte der Autor dem Leben dieser Stadt einen Spiegel vor.

Wie wahr. „Ein parlamentarisches Leben ohne Komödienspiel ist ja überhaupt nicht möglich. Hier wie nirgends anderswo gibt es wüsten Streit ohne Spur von Hass und eine Art von zärtlicher Liebe ohne Treue“, charakterisiert Schnitzler die Politik seiner Zeit. Können wir hundert Jahre später ehrlich behaupten, sehr viel weiter zu sein?

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2014)

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