Nicht genügend, setzen! Wie ein Kleinformat das Schuljahr sieht

Das Wehklagen von Journalisten über und ihre Kritik an der Schule ist gerade derzeit wieder endlos. Aber nicht immer sind die Lehrerinnen und Lehrer schuld.

Rechtzeitig zum Schulbeginn war die schlechte Nachricht da. Lauthals warnten kleinformatige Postillen vor einer besonderen Tücke, die das neue Schuljahr berge. Nein, nicht nur ein Engpass an Lehrerinnen und Lehrern, nicht mangelnde Deutschkenntnisse, nicht Lese- und Rechtschreibschwächen stünden uns bevor. Es drohe Schlimmeres, eine wahre Durststrecke für Kinder und Eltern tue sich auf. Die Hiobsbotschaft: Heuer fielen besonders viele Feiertage auf Sonntage! Das neue Schuljahr werde endlos lang. Schuld ist der Kalender.

Nun könnte man solche Meldungen als journalistische Belanglosigkeiten abtun. In Wirklichkeit aber enthüllen sie ein Bild von den verlotterten medialen Sitten unserer Bildungsdiskussion. Schlaglichtartig wird klar, vor welcher Quadratur des Kreises engagierte Pädagoginnen und Pädagogen stehen. Einerseits sollen sie mehr und Besseres leisten: die Studierfähigkeit erhöhen, gutes Benehmen üben und täglich turnen.

Darüber hinaus sollen sie in der Schule soziale Ungleichheiten unter den Kindern, die durch die Lage der Familien, den Arbeitsmarkt, die Migrationsbewegungen und die Wohnsituation entstanden sind, ausgleichen. Dafür aber sollen sie nicht mehr, sondern weniger Zeit brauchen. Ein Schuljahr ist ja nur dann fein, wenn es möglichst kurz ist. So viel zum Leistungsdenken mancher Journalisten, wenn es um Bildung geht.

Können wir uns vorstellen, dass dieselben Kleinformate in Wehklagen ausbrechen, weil in der neuen Bundesligasaison so viele Runden zu spielen sind? (Nebenbei: Ich halte eine gute Schule für allemal spannender als die österreichische Fußballmeisterschaft.) Können unsere Adler jammern, dass die Skisprungsaison bis ins Frühjahr dauert?

Vergießen die Sportreporter Krokodilstränen, weil die Tennisspieler so viele Turniere spielen müssen? In allen Sportarten wird mehr und intensiver trainiert. Das Schulwesen aber ist medial nur dann in Ordnung, wenn möglichst viele Unterrichtsstunden entfallen. Nicht Leistungsdenken macht sich hier breit, sondern eine kleingeistige Schlawinermentalität. Mit ihr wollen wir zur Weltspitze aufschließen.

Dabei könnte man von den Schülerinnen und Schülern so viel lernen. Viele von ihnen freuen sich auf die Schule: Sie sehen ihre Freundinnen und Freunde wieder, erwarten Projektwochen, Exkursionen und hoffentlich anregenden Unterricht. Für sie ist die Schule ein wertvoller sozialer Raum. Sie lernen, Konflikte zu bestehen, Kompromisse zu schließen (auch mit sich selbst) und Gemeinschaftsfähigkeit. Dort, wo sie auf Spaß und Freizeit verzichten müssen, öffnet sich auch die Chance auf sozialen Aufstieg durch Bildung. Alles das ist Schule, aber sie soll halt nur nicht zu lange dauern. Denn gut ist ein Schuljahr nur dann, wenn es möglichst kurz ist.

Seit Jahrzehnten wächst die Zahl der Pädagoginnen und Pädagogen, die nicht nur ihre Fächer unterrichten, sondern bereit sind, sich vielen kompensatorischen Aufgaben zu widmen. Sie sind Berufsberaterinnen und -berater, psychologisch ausgebildete Helferinnen, bringen Jugendliche von der Straße weg in ein erzieherisches Umfeld.

Sie verzichten auf manche Privilegien früherer Zeiten, sind bereit, Kinder auch an Nachmittagen zu betreuen. Der mediale Dank dafür sieht so aus, dass man in ihnen gleichsam die Schließ- und Kerkermeister von „Zwangstagsschulen“ sieht. Denn: Kurz muss die Schule sein. Dürfen wir uns wundern, dass die Schulreformen nicht weiterkommen? Vor vielen Jahren charakterisierte der liberale französische Historiker Tocqueville den Stillstand seiner Zeit so: „Ich befürchte, dass die Menschen einen Punkt erreichen, wo sie jede neue Theorie als Gefahr ansehen, jede Neuerung als ärgerliche Anstrengung, jeden sozialen Fortschritt als ersten Schritt zur Revolution und dass sie sich vielleicht überhaupt nicht mehr bewegen wollen.“

Das könnte auch eine Beschreibung der Bildungsdiskussion unserer Zeit sein.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.