Im Grauen Haus werden Steine zum Reden gebracht

Lob macht verdächtig: Es ist nicht Liebedienerei, wenn Geschichtsbewusste den Wiener Landesgerichtspräsidenten für einen Glücksfall halten.

Was ihr den Geist der Zeiten nennt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“, sagt Faust zu seinem Famulus Wagner. Dieser Satz könnte auch über österreichischen Gerichten stehen. Ihre Rechtsprechung folgte dem Geist wechselnder Zeiten und Herren. Meist war sie nicht schlechter als diese, selten besser.

Ausgestattet mit den feinen Härchen der Opportunität fühlte sie, was man „gesellschaftliche Notwendigkeiten“ nennt. Denen folgten die Urteile. Nicht Klassenjustiz waren sie, aber Tendenzjustiz. Was Richter und Staatsanwälte einatmeten, war der Zeitgeist: Als Urteile atmeten sie ihn wieder aus. Die Justiz funktionierte unter wechselnden politischen Vorzeichen, weil viele handelnden Personen in ihr überlebten.

Historiker und mutige Journalisten haben das aufgezeigt: Oscar Bronner etwa. Er nannte 1965 in Günther Nennings „Forum“ die Namen jener Richter und Staatsanwälte, die in der NS-Zeit an Todesurteilen beteiligt waren und sich damals noch im Justizdienst befanden. Sein Artikel trug die Überschrift „Die Richter sind unter uns“. Sie war nicht zufällig Wolfgang Staudtes Film „Die Mörder sind unter uns“ nachempfunden.

Zehn Jahre organisierte die Historikerin Erika Weinzierl mit Christian Broda, für dessen Justizreformen auch Juristen mit NS-Vergangenheit loyal fochten, die Symposien „Justiz und Zeitgeschichte“. Damals begannen, lang vor der Waldheim-Diskussion, junge Historikerinnen und Historiker und mutige Juristen die Aufarbeitung der Justizgeschichte. Ihre Analysen wirken bis heute nach.

Im Wiener Landesgericht etwa. Dort arbeitet seit mehreren Jahren ein Präsident, für den sein Haus mehr ist als nur ein Ort der Rechtsprechung: Er versteht es als Mahnmal gegen jedwede Unrechtsjustiz. Er hat das Graue Haus zu einem zeitgeschichtlichen Lernort gemacht.

Tafeln und Führungen weisen auf den grauenvollsten Ort des Gebäudes hin – den ehemaligen Hinrichtungsraum, der heute eine Weihestätte ist. Eine Ausstellung dokumentiert das Schicksal der dort guillotinierten Widerstandskämpferinnen und -kämpfer: Schlosser und Landwirte, Hilfsarbeiter und Postler, Eisenbahner und Holzarbeiter, Hausfrauen, die Ordensschwester Restituta, Kommunisten und Legitimisten, Sozialisten und Christlichsoziale.

Ihnen allen widmet das Landesgericht Vorträge. Mehrmals pro Jahr werden Gerichtsverfahren, etwa der Schattendorf-Prozess, anhand von Originalunterlagen nachgestellt. Am heurigen Nationalfeiertag wird der weitgehend vergessene erste Engerau-Prozess im Mittelpunkt stehen. Vor 70 Jahren sühnte ein österreichisches Volksgericht die Morde an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern in Engerau-Petržalka, einem Stadtteil von Bratislava. Drei Wachmänner wurden damals zum Tod verurteilt und justifiziert.

Jedenfalls: Der Präsident des Wiener Landesgerichts, Friedrich Forsthuber ist sein Name, verkörpert den Glücksfall eines geschichtsbewussten Juristen.

Und weil man sich durch Lob verdächtig macht: Ich bin mit Präsident Forsthuber weder verwandt noch besonders gut bekannt, uns verbindet kein Duwort, wir gehören keinem gemeinsamen Klub an, und ich kenne seine weltanschauliche Observanz nicht. Ich halte nur das, was er seit vielen Jahren tut, für beispielgebend.

In zwei Wochen wird er gemeinsam mit den Spitzen der Republik, Überlebenden der nationalsozialistischen Diktatur, Angehörigen von Opfern und den Religionsgemeinschaften vor dem Landesgericht eine Stele für die Hingerichteten des NS-Unrechtsstaates enthüllen. Er hat die Steine des Grauen Hauses zum Sprechen gebracht.

Als Staatsbürger unterliegen wir der Rechtsprechung, aber auch die Justiz hat eine Richterin: Es ist die Geschichtsschreibung. Ich denke, sie wird dem Präsidenten des Wiener Landesgerichts eine bewundernswerte Haltung attestieren.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2015)

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