„Meinen Reichtum an Liebe habe ich in Auschwitz verströmt“

Das Strafverfahren gegen einen ehemaligen SS-Mann in Deutschland lässt den Mut einer katholischen Krankenschwester aus Österreich erst recht bewundern.

Der Prozess, der derzeit in der Bundesrepublik Deutschland gegen einen 93-jährigen SS-Mann im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz geführt wird, ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Erstens, weil der Angeklagte „mit Reue und Demut“ seine moralische Mitschuld bekennt. Zweitens, weil die deutsche Justiz spät, aber doch nun auch die Mitwirkung als Verwalter an einem Menschheitsverbrechen als Voraussetzung für ein Verfahren annimmt.

Drittens zeigt der Prozess, in welcher emotionalen Zerreißprobe die Zeugen leben. Als eine Überlebende dem Angeklagten die Hand zur Versöhnung reichte, protestierten andere dagegen, weil sie darin eine Geste der Vergebung erblickten. Im Grunde macht aber das Strafverfahren klar, wie schwer sich Justiz und Gesellschaft mit der Beurteilung kollektiv begangener Verbrechen tun.

Unser Rechtsdenken neigt dazu, Verantwortung und Schuld individualistisch zu sehen. Dem muss man entgegnen, dass die größten Verbrechen der Menschheit nicht nur individuelle Untaten waren, sondern als staatliche Vorgaben und unter Ausnützung staatlicher Machtapparate verübt worden sind. Dabei konnte sich der Einzelne damit entschuldigen, dass sein persönliches Verhalten ohnehin nichts an der Gesamtsituation geändert hätte und er sich als „bloßer Zuseher“ unschuldig gefühlt habe. Letztlich mündet das in der Frage, ob es ein richtiges Leben im falschen gebe, und dem von Adorno später aus der „Minima Moralia“ gestrichenen Satz: „Es lässt sich privat nicht mehr richtig leben.“

Es ist schade, dass Adorno das Leben der österreichischen Krankenschwester Maria Stromberger nicht kannte. Sie arbeitete in den 1920er-Jahren als Krankenschwester, wurde mit Kriegsbeginn in einem Kärntner Lazarett dienstverpflichtet und erfuhr dort von Soldaten einiges über die Konzentrationslager im Osten. Daraufhin ließ sich die gläubige Katholikin ins „falsche Leben“ versetzen. Am 1.Oktober 1942 trat sie ihren Dienst als Oberschwester im SS-Revier in Auschwitz an. Dort waren Krankenschwestern von den Häftlingen gefürchtet. Erst als sie die Ermordung eines Inhaftierten mit ansah und ohnmächtig zusammenbrach, fassten einzelne Gefangene Vertrauen zu ihr.

Maria Stromberger begann zu helfen. Gegen alle Verbote besuchte sie den Häftlingskrankenbau, sah Gefolterte und Lastwagentransporte ins Krematorium. Obwohl zu Stillschweigen verpflichtet, redete sie mit Häftlingen, half ihnen, Medikamente aus der SS-Apotheke abzuzweigen und ins Lager zu schmuggeln, versorgte sie mit Lebensmitteln und Nachrichten über die Frontlage. Als sie denunziert wird, kann sie sich gerade noch retten. Das Vertrauen des Häftlingswiderstands, bei dem Österreicher führende Rollen einnahmen, in die Krankenschwester wird so groß, dass man ihr Briefe an die Familien anvertraute. Der Häftling Hermann Langbein verfasst eine Kurzdokumentation, um die Menschen draußen über die Zustände im Vernichtungslager – die Erschießungen, Phenolinjektionen, die Krankheiten und die Gaskammern – zu informieren. Maria Stromberger schmuggelt sie nach Wien.

Erst im Jänner 1945 wird sie aus Auschwitz versetzt. Das Kriegsende erlebt sie in Bregenz, wo sie ins Gefängnis kommt: Man beschuldigt sie, in Auschwitz Häftlinge getötet zu haben. „Ich bin mitten unter Nazis, SS und Gestapo – ich, als ihr größter Feind“, schreibt sie. 1946 durch einen Gnadenakt entlassen, arbeitet sie als Näherin. Der KZ-Verband ehrt die Vereinsamte. „Meinen Reichtum an Liebe habe ich in Auschwitz verströmt“, sagt sie. Als Stromberger 1957 stirbt, widmen ihr die kommunistische „Volksstimme“ und die katholische „Furche“ Nachrufe. 1977 wird ihr Grab aufgelassen.

Andreas Eder und Harald Walser haben das Leben Maria Strombergers dem Vergessen entrissen. Man darf hoffen, dass das Plätzchen, das die Österreich-Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz hoffentlich für Maria Stromberger vorsieht, nicht allzu bescheiden ausfallen wird.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2015)

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