Psychoanalyse, Bergsteigen, Politik: Eine zeitgemäße Betrachtung

Jede Auskunft über persönliche Vorlieben wird von Mitmenschen gedeutet.
Ob die Interpretationen freilich immer stimmen, ist eine andere Frage.

Nun, da der Sommer naht, werden unsere Politikerinnen und Politiker bald wieder gefragt werden, wie sie ihren Urlaub verbringen. Wenig überraschend werden ihre Antworten „Lesen und Bergsteigen“ lauten. Das Lesen vermittelt den Eindruck von Bildungsstreben, das Bergwandern die Liebe zur Natur.

Tatsächlich sind fast alle auf Gipfel gegangen: Franz Vranitzky bestieg den Großglockner, Alfred Gusenbauer wanderte in Leggins, Wolfgang Schüssel schritt mutig voran und wollte seine ganze Regierung zu Gipfelstürmern machen. Bundespräsident Heinz Fischer war auf Klettersteigen zu sehen, Jörg Haider in der Pallavicinirinne und Werner Faymann ist ein ausdauernder Berggeher. Nur H.-C. Strache in der schicken Badehose fällt etwas aus dem Bild. Beim Wiener Bürgermeister sprechen die physischen Rahmenbedingungen gegen den Bergfex.
Mir gefällt die Begeisterung der Politik für die Berge. Sie vermittelt Heimatgefühl. Ich verspüre es nicht nur in Österreich, sondern auch in den Dolomiten. Dass meine Bergbegeisterung in letzter Zeit leicht gedämpft wurde, liegt nicht an der Politik, sondern an meiner Lektüre.

So finde ich in Schnitzlers „Weitem Land“ den Dialog zwischen dem Schriftsteller Albertus Rhon und dem Berghelden und alternden Don Juan, Dr. Aigner, irgendwie beleidigend. Da erkundigt sich der dicke Dichter am Völser Weiher beim Erstbesteiger nach den Schwierigkeiten des „Aigner-Turms“. Rhon zu Aigner: „. . . ist das nicht Ihr Turm? Der Aignerturm?“ Aigner: „Es war einmal meiner. Jetzt gehört er mir nicht mehr.“ Rhon: „Das muss doch ein eigentümliches Gefühl sein, so zu Füßen eines Turmes zu sitzen, den man als Erster bestiegen hat – und selbst nicht mehr in der Lage zu sein . . . Man könnte hier einen Vergleich wagen . . . den ich aber lieber unterlassen will . . .“ Aigner, knapp: „Wollen wir dieses Thema nicht lieber fallen lassen, Herr Rhon?“

Natürlich konnten die psychoanalytischen Zeitgenossen Schnitzlers diese Stelle nicht übersehen. Theodor Reik etwa, 1917: „Es ist kein Zweifel möglich, dass hier bei Schnitzler eine Anspielung auf das Liebesleben des Direktors Aigner vorliegt und der Dichter Rhon durch seinen Vergleich auf eine Impotenz seines Gesprächspartners hinzielen wollte.“ Reik erweist sich in dieser Interpretation als ein treuer Schüler seines Lehrers Freud.

Der, selbst ein ausdauernder Wanderer, hatte in der „Traumdeutung“ das Bergsteigen als Symbol für den Sexualverkehr bezeichnet. Neben Stiegen, Leitern und Treppen sei das Steigen eine Metapher für den Geschlechtsakt. Freud wörtlich: „Die Grundlage der Vergleichung ist nicht schwer aufzufinden; in rhythmischen Absätzen, unter zunehmender Atemnot kommt man auf eine Höhe und kann dann in ein paar raschen Sprüngen wieder unten sein. Und vergessen wir nicht, den Sprachgebrauch heranzuziehen. Er zeigt uns, dass das ,Steigen‘ ohne Weiteres als Ersatzbezeichnung für die sexuelle Aktion gebraucht wird. Man pflegt zu sagen, der Mann ist ein ,Steiger‘, ein ,alter Steiger‘“.

Das Bergsteigen als Symbol kommt bei Freud auch in der Fallgeschichte der Dora vor. Die hieß bekanntlich Ida Bauer und war die Schwester des Politikers Otto Bauer. Als 18-Jährige schildert sie Freud ihre Träume und fordert vom Seelenarzt hartnäckig, dass ihrem kurzatmigen Vater unbedingt weitere Gipfeljagden verboten werden müssten. Freuds Interpretation: Grundlage für diese fixe Idee der Tochter sei die Beobachtung, dass sich „ihr Vater in der Nacht bei Mama bis zur Atemnot überanstrengt“ habe. Na ja.

Unsere Staats- und Regierungsspitzen demonstrieren mit ihrer Vorliebe fürs Bergsteigen Heimatliebe und Ausdauer. Wir sollten dies nicht freudianisch deuten. Mir scheint, dass man auf Berge gehen kann, ohne andauernd nach Parallelen zum Triebleben zu suchen.
Im Interesse der alpinen Sicherheit würde ich sogar dringend empfehlen, beide Bereiche sorgfältig voneinander zu trennen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2015)

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