Die Narben der Berge: Der Krieg ist ein Freilichtmuseum geworden

Eisstädte, Reste von Lazaretten in Felswänden und gesprengte Gipfel erinnern an den Schrecken des italienisch-österreichischen Gebirgskriegs 1915 bis 1918.

Während Sie diese Zeitung in der Hand halten, bin ich auf der Marmolata und suche mit meinem Bergfreund nach den Resten der Scholzhütte. Auf italienischen Kriegskarten habe ich sie als „Capanna Scholz“ entdeckt. Archivaufnahmen zeigen 1916 ein Holzgebäude mit pfeifenrauchenden Kaiserjägern.

Von dem einstigen befestigten Unterstand existiert nicht mehr viel. Sein Geschütz beherrschte den Gletscher der Marmolata. In diesen hatten die Österreicher eine Stadt gegraben. Während oben die Winterstürme tobten, war das Leben unten im Eis relativ erträglich. Gänge mit einer Länge von etwa zehn Kilometern durchzogen den Gletscher, verbanden Siedlungen, Magazine, Krankenstuben und Geschützstellungen und führten bis zu den höchsten Erhebungen.

Heute noch gibt der Gletscher die Reste der „Stadt im Eis“ frei. Öfen, Schuhwerk, Waffen, auch sterbliche Überreste der Soldaten. Alte Friedhöfe und kleine Ausstellungen erinnern an den Dolomitenkrieg. Vom einstigen italienischen Triumph über den Sieg von Vittorio Veneto ist nur mehr wenig zu spüren. Da und dort wird sogar die rücksichtslose Italianisierung Südtirols zugegeben. Sieger, wenn auch vor allem am Verhandlungstisch der damaligen Großmächte, leisten sich ab und zu auch Selbstkritik.

Über 500 Kilometer lang war die Front in Fels und Eis, die von der Schweizer Grenze über den Ortler und Adamello, den nördlichen Gardasee, den Pasubio, die Marmolata, den Karnischen Kamm und bis über das Isonzotal nach Görz reichte. Auf italienischer Seite hatte man fast eine Million Soldaten zusammengezogen. Dennoch gelang kein entscheidender Erfolg. Der Blutzoll aber war enorm: Über 150.000 Tote waren auf beiden Seiten zu beklagen. Der Durchbruch der halb verhungerten k.u.k. Armee mit deutscher Hilfe am Isonzo gegen Kriegsende war wertlos.

Die Wunden des Kriegs in Fels und Eis sind bis heute zu sehen. Die Berge tragen Narben. Die beiden gewaltigen Schuttkegel am Lagazuoi, die man vom Falzaregopass aus sieht, sind nicht durch Erosion entstanden. Sie sind die Folge italienischer und österreichischer Minensprengungen. Durch die Felswand führt ein etwa 800 Meter langer senkrechter Tunnel zum Gipfel. Dessen Sprengung verschob die Frontlinie bis zur nächsten Erhebung.

Mitten in steilen Felswänden errichtete man im toten Winkel der österreichischen Artillerie bis zu drei Stock hohe, oft nur eineinhalb Meter tiefe Militärdepots mit Telefonzentralen, Schreibstuben, einer Tischlerei und einem Verbandsplatz. In der Gipfelmulde des Col di Lana kann man windgeschützt rasten. Sie ist der einstige Explosionstrichter der italienischen Gipfelsprengung. Der Krieg hatte die entlegensten Winkel und Gipfel der Alpen entdeckt.

Der heutige Klettersteig auf den Monte Piano folgt der österreichischen Nachschublinie von 1915. Auf ihr brachte man Kanonen, Lebensmittel, Wasser, Kohle und Munition nach oben, Verletzte und Tote ins Tal. Unter extremsten Bedingungen mussten für jeden Frontsoldaten durchschnittlich 70 Kilogramm pro Tag transportiert werden. Die Anstrengungen erscheinen heute unvorstellbar.

Hundert Jahre später führen Wege und Klettersteige zu den einstigen Schützengräben und Kavernen. Viele idealistische Anstrengungen und eine geglückte Nachbarschaftspolitik haben den einstigen Kriegsschauplatz zum Freilichtmuseum gemacht.

Die Zeiten, in denen wir in der Schule für die Südtiroler Kinder sammelten und Spielzeug bastelten, das Abzeichen mit dem gespaltenen Tiroler Adler trugen und klammheimlich die Sprengstoffanschläge auf italienische Militär- und Infrastruktureinrichtungen bewunderten, sind vorüber. Heute begegnen einander italienische und österreichische Bergsteiger mit einem „Griaß di“ oder „Salve“.

Auch das ist, nach mehr als hundert Jahren Ressentiment und Feindschaft, ein Stück europäischer Erfolgsgeschichte.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2015)

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