Asyl und Peter Altenberg: Wie ein Ort in Oberösterreich hilft

Glaubt man den Schlagzeilen, gibt es nur Hetzer oder Tagträumer. Die Hilfsbereitschaft vieler Österreicherinnen und Österreicher erreicht nie die Titelseiten.

Peter Altenberg gilt als Inbegriff des Wiener Kaffeehausliteraten. Tatsächlich verbrachte er viel Zeit in Cafés, nicht nur am Graben, von wo aus er seine Angebeteten zum Fotografieren schickte. „Halbakt oder Akt“ lautete der Auftrag, und mit den Bildern tapezierte er sein Hotelzimmer. Peter Altenberg saß aber auch in meinem Heimatort im Kaffeehaus. Und schwärmte: „Weyer am Gaflenzbach, wie lieben wir dich. Du kannst gemächlich im reizenden stillen Landkaffeehaus verweilen, den ganzen Nachmittag. Einmal bleibt man im Zimmer, einmal im Café. Solange ich in Weyer war, kam ich mir wie ein Allerreichster vor.“

Altenbergs Beschreibungen des Sommers 1916 in Weyer an der Enns erreichte das Publikum kaum mehr. Sie erschienen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, und da hatten die Leserinnen und Leser andere Sorgen. Das Kaffeehaus des Peter Altenberg existierte aber noch in meiner Volksschulzeit. Mein Lehrer spielte dort Schach, was mir doppelt seltsam vorkam: Erstens ging man am Land nicht ins Café, sondern ins Wirtshaus, und zweitens spielte man nicht Schach, sondern Schnapsen. In den 1970er-Jahren wurde das Kaffeehaus geschlossen. An Peter Altenberg erinnerte nichts mehr.

Seit einigen Monaten ist das Gebäude jedoch wieder belebt. Keine Sommerfrischler beherbergt es, auch kein oberösterreichisches Publikum. Die Räume wurden für Asylsuchende geöffnet. Dort, wo Peter Altenberg vom Rauschen des Baches, dem Kreuzberg und einem ungenannten Mädchen schwärmte, sind jetzt 40 Menschen aus Syrien, der Ukraine, Tschetschenien und anderen kriegsgeplagten Ländern untergebracht. Sie heißen nicht Hinterramskogler, Gsöllnpointner oder Kerschbaumsteiner, sondern Khaled, Firas, Jameel und Marwan. Genau zwischen diesen Gruppen ereignete sich eines jener Wunder, die es nie in die Schlagzeilen bringen. Eine Allianz bildete sich: Sie reichte vom sozialliberalen Bürgermeister über den Pfarrer, eine Bürgerliste, die Hospizbewegung bis zur Volkshilfe. Sie klagte nicht an, sondern half.

In einem Markt mit etwa 3000 Bewohnerinnen und Bewohnern fanden sich über hundert Hilfsbereite – auf Wien umgerechnet wären das mindestens 30.000 bis 40.000. Diese Freiwilligen arbeiten seit Wochen ehrenamtlich und unbezahlt: Studentinnen, Pensionisten, Ärztinnen und Ärzte, der Briefträger, eine Hebamme, Computerfachleute und mehr als zehn Lehrerinnen und Lehrer.

Sie sammeln Kleider, alte Fahrräder, dolmetschen beim Lebensmitteleinkauf, erklären die Fahrscheinautomaten, leiten einen Schwimmkurs oder lehren Deutsch. Dass der Bürgermeister und besonders aktive Helferinnen und Helfer Pädagogen oder Psychologinnen sind, ist wohl kein Zufall. Mir scheint, dass die meisten von ihnen nicht mit einem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen sind. Deshalb helfen sie anderen. Keine realitätsfremden „Gutmenschen“ sind sie, sondern Menschen, die real Gutes tun.

Medial jedoch kommen sie kaum vor, denn die Schlagzeilen kennen seit Wochen nur zwei Extreme: jene, die krakeelen und nichts tun, und die anderen, die mehr Hilfe fordern, ohne selbst aktiv zu werden. Die stille Mehrheit der Hilfsbereiten wird übergangen. Sie ist größer, als man annimmt. Mein Heimatort ist ein leuchtendes Beispiel dafür.


Ende September finden in Oberösterreich Landtagswahlen statt. Ich bin überzeugt, dass die oberösterreichischen Politiker aller Couleurs schon jetzt in den Startlöchern scharren, um eine Journalistenfahrt nach Weyer zu planen: Man will doch sicher dort den vielen Idealistinnen und Idealisten medienwirksam die Hände schütteln. Von den Asylsuchenden werden sie nur zwei Bitten hören: möglichst viel zu lernen und arbeiten zu dürfen. Für eine solche Begegnung gibt es übrigens wieder ein Kaffeehaus: Die freiwilligen Helferinnen und Helfer haben es als Begegnungsstätte gegründet. Peter Altenberg hätte seine Freude daran.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2015)

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