Hurra, ich habe eine Diagnose! Vom Glück, pathologisiert zu werden

Die Verfeinerung der Untersuchungsmethoden fördert eine Flut von Symptomen zutage. Worauf man mit Geduld und Liebe reagieren könnte, wird zur Krankheit.

Bisher rettete ich mich über Gedächtnislücken mit einer Kreisky-Anekdote. Der soll, wenn er all die Menschen, die ihn ansprachen, nicht sofort erkannte, resignierend gemurmelt haben: „Mir geht's wie dem Aff‘ in Schönbrunn. Ihn kennt jeder. Er kennt keinen!“

Subtiler noch war die Methode des Sonnenkönigs, die Namen von Unbekannten, die ihn per Du ansprachen, herauszufinden. „Entschuldige bitte, ich kenn‘ dich zwar vom Gesicht, aber gib‘ mir ein Stichwort“, soll er gesagt haben, worauf der so Angesprochene eilfertig seinen Familiennamen nannte. „Schon, schon“, brummte der Kanzler gütig, „das ist mir ja bekannt, aber wie ist der Vorname?“ Der Gesprächspartner wuchs um einen Kopf, und Kreisky wusste den vollen Namen. Soweit die Anekdote.

Meine Realität ist trister. Manchmal fällt mir zu einer Person, die ich irgendwann kennengelernt habe, nicht sofort der Name ein. Meist kann man sich darüber hinwegschwindeln. Es kann aber auch die Hölle sein. Etwa, wenn man an einem Rednerpult steht und einem der Name eines zu Begrüßenden nicht einfällt. Die Demütigung ist perfekt, wenn die Hilfe aus dem Publikum kommt.

Zum Glück gibt es aber einen medizinisch-psychiatrischen Freundeskreis. Der tröstet. Gedächtnislücken beim Auffinden von Namen seien bloß eine transiente Amnesie, wie sie altersbedingt vorkomme. Die Amnesia verbalis sei möglicherweise eine vorübergehende Funktionsstörung mediobasaler Temporallappenteile des Gehirns, ein fluktuierendes Aufmerksamkeitsdefizit, aber nicht unbedingt ein beginnender Alzheimer oder eine Lewy-Körperchen-Demenz. Die könne man ohnedies nur post mortem zweifelsfrei nachweisen.

Unter all den möglichen Diagnosen, die mir aus dem Freundeskreis hilfreich angeboten werden, habe ich mich für eine besonders exquisite entschieden: die Prosopagnosie. Sie bezeichnet die Unfähigkeit, die Identität einer bekannten Person anhand ihres Gesichts zu erkennen. Wenn mir also in Zukunft nicht sofort ein Name einfällt, werde ich sagen: „Ich bitte um Verständnis, aber ich leide an einer leichten neurologischen Beeinträchtigung – einer temporär oder situativ auftretenden Form von Prosopagnosie. Wären Sie so freundlich, mir Ihren Namen zu nennen?“

Freiwillig als Opfer eines heimtückischen Leidens enttarnt, wäre mir die Hilfsbereitschaft der Angesprochenen sicher. Ich müsste nicht mehr nach Namen grübeln. Diagnosen, besonders die vorgetäuschten, können das Leben erleichtern. Die realen belasten es fast immer.

Die Verfeinerung psychologischer Untersuchungen mit immer mehr Symptomen, Schwächen, Syndromen und Krankheitsbildern setzt aber nicht beim Erwachsenen ein. Der Hoffnungsmarkt sind die Kinder. Kleine, entwicklungsbedingte Verzögerungen oder Eigenheiten werden immer früher diagnostiziert und mit besorgniserregenden Fachbegriffen belegt. Diese geistern dann mit Horrorzahlen durch die Medien und befeuern die Pharmaindustrie. Neue Krankheitsbilder verlangen nach neuen Medikamenten.

Die willkürliche Ausweitung der Diagnose Restless-Legs-Syndrom für das früher Zappelphilipp genannte Kind ist nur ein Beispiel. Die Pathologisierung der kindlichen Entwicklung ist zu einem fatalen Kreislauf geworden. Drei von vier Gruppen profitieren mehr oder weniger davon. Eltern nehmen an dem Diagnosewettlauf teil, Lehrer sehen in der Flut an Diagnosen den Beweis für die These von den stetig wachsenden Schwierigkeiten ihres Berufs. Therapeutinnen und Therapeuten erblicken neue Märkte.

Die vierte Gruppe, die Kinder, kommen in diesem Kreislauf bloß als Objekte vor. Sie sind dazu verurteilt, möglicherweise ein Leben lang die eilfertige Diagnose und das Kainsmal einer medizinisch diagnostizierten Teilleistungsschwäche mit sich zu tragen. Als ob der Mensch als Ganzes nicht eine einzige Teilleistungsschwäche wäre.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2015)

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