Bürger als Täter: Wie aufmerksam die Post und die Justiz reagieren

Ein nächtlicher Ausflug zum Postkasten in der Nachbarschaft wird zu einer Grundsatzentscheidung: Tun oder nichts tun, das ist die Frage.

Auf meinem Weg zur U-Bahn befindet sich ein Postkasten. Er ist unübersehbar. Laut einer Aufschrift der Postverwaltung fühlt er sich leer, aber er ist dennoch Träger einer Botschaft: Der Parole nämlich, mit der er beschmiert ist.

Nun richten sich Aufschriften an gut frequentierten Orten fast immer gegen die Politik. Sie sind Teil der Volksmeinung, selten sympathisch, aber nicht immer wutbürgerlich. So wurde etwa bei der letzten Wahl in der Bundeshauptstadt die Versicherung des Wiener Bürgermeisters, er „möge Wien“ durch den Tausch der Buchstaben „ie“ verändert. Michael Häupl hat darüber wahrscheinlich geschmunzelt.

Seit einigen Wochen aber ziert den Postkasten auf meinem Weg ins Büro eine Aufschrift, bei der einem das Lachen vergeht. Ganz deutlich ist in Großbuchstaben zu lesen: „Mikl-Leitner lynchen“. Natürlich kann man sagen: Das hat ein Verrückter geschrieben. Immerhin ist es aber eine Parole der Tat, eine Aufforderung zur Gewalt. Menschen zum Freiwild einer Lynchjustiz zu machen, überschreitet freilich Grenzen.

Überraschend ist nur, dass diese Aufschrift scheinbar niemanden stört, obwohl an ihr tagtäglich nicht nur Menschen, die zur U-Bahn eilen, vorbeigehen, sondern Trägerinnen und Träger größter Verantwortung und hochgebildete Juristinnen und Juristen. Der Postkasten befindet sich nämlich am Justizministerium. Damit ist hinreichend erklärt, warum noch niemand die Entfernung der Aufschrift veranlassen konnte.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Justizverwaltung sind ja in Zeiten wie diesen von ihren Amtsgeschäften völlig absorbiert. Sie müssen an clamorose Gerichtsfälle denken und die langsamen Mühlen der Justiz, Fährnisse der Reformen beachten, und überdies schleppen sie wohl schwere Akten vom Ministerium zum Justizpalast und zurück.

Dabei ist ihnen der Postkasten zwar im Weg, aber sie schaffen es nicht, seine Aufschrift zu lesen. Dazu kommt noch, dass Justitia selbst meist blind abgebildet wird. Pflichtbewusster noch als die Göttin tragen ihre Dienerinnen und Diener offenbar auch im Alltag eine Binde vor den Augen. Blind aber sind vor allem die Bediensteten der Post. Sie leeren den Briefkasten täglich um 16 Uhr. Wahrscheinlich fällt das Lesen von Aufschriften oder gar deren Entfernung nicht in ihre Pflichten. An klammheimliche Freude will ich nicht glauben.

Nach längerem Überlegen beschloss ich, etwas zu tun. Ich wollte die Aufschrift entfernen. Mein Über-Ich riet mir allerdings, vorher die Post zu fragen. Ich ersuchte um die Erlaubnis, den Postkasten reinigen zu dürfen. Sollten dabei geringfügige Putzspuren bleiben, bat ich um Nachsicht. Tatsächlich erreichte mich ein Antwort-Mail. Es bewies, dass die Post ihre Kernkompetenz im Verkauf von Plüschtieren, Kaugummis und alpenländischen Musik-CDs sieht. Man empfahl mir, mich an die Hausverwaltung zu wenden.

So wird der Bürger zum Täter. Eine miktionsbedingte Schlafunterbrechung nützend, schlich ich nachts zum Postkasten. Beklebte ihn. Mit dem schlichten Wörtchen „helfen“. Seither steht auf ihm nicht „Mikl-Leitner lynchen“, sondern „Mikl-Leitner helfen“.

Wohl war mir dabei nicht. Nicht, dass ich die Polizei fürchte – die sieht man in der Neustiftgasse selten. Eher hatte ich Angst vor den Nachtschwärmern des Café Raimund oder dass die Georg-Kreisler'schen alten Tanten, die bekanntlich in der Nacht schlaflos Tango tanzen, bei einer Verschnaufpause aus dem Fenster schauen. Auf den Überwachungskameras des Justizministeriums bin ich sicher zu sehen.

Sollte daher in den nächsten Wochen eine Strafverfügung wegen der unbefugten Beklebung eines Postkastens bei mir eintrudeln, werde ich sie anstandslos bezahlen. Falls sie eine exorbitante Höhe aufweist, würde ich um ein Crowdfunding bitten, auch wenn ich nicht dem Typus des jugendlichen Start-ups entspreche, sondern eher dem eines älteren Citoyens.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds, der dieser Tage sein Zehn-Jahr-Bestandsjubiläum begeht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2015)

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