Friedhöfe sind Orte der Stille. Doch Grabsteine können Krimis erzählen

Was Besucher auf dem „Friedhof der Judenchristen“ erwartet: Zerbrochene Tafeln, Urnen aus Auschwitz und das Grab eines Mannes, der half, Hitler zu retten.

Wenn sich die Wolke der Punschstände über die Innenbezirke legt und wohltätige Menschen darangehen, durch Alkoholausschank Gutes zu tun, flüchte ich zu Orten der Stille. Suche auf dem Kahlenberg das Grab des Diplomaten de Ligne („Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht weiter“), spaziere am St. Marxer Friedhof zur Weltreisenden Ida Pfeiffer, erzähle Hebbel am Matzleinsdorfer Friedhof, was es in seinem (und meinem) Stammcafé Neues gibt oder werfe einen Blick auf Wiens ironischstes Grabmal: das riesige Holzkreuz, das Adolf Loos für den getauften Juden Peter Altenberg entworfen hat. Das sieht man von der Straßenbahn aus, wenn man zu Wiens traurigster Grabstätte fährt: dem Friedhof der sogenannten Judenchristen auf dem Zentralfriedhof.

Sein Eingang befindet sich bei Tor fünf. Der Unterschied zu den Gräbern bei Tor eins könnte nicht größer sein. Dort die berühmten jüdischen Familien, hier die Unbekannten; dort die Grabmausoleen, hier kleine Tafeln, die in der Erde versinken. Ein Brauereibesitzer hatte in der Monarchie den Grund gekauft. 1928 wurde die Zeremonienhalle eröffnet, 1938 verwüstet und, nach einem Bombentreffer im letzten Kriegsjahr, in den 1960er-Jahren wiederaufgebaut.

Heute beschränken sich die Informationen bei Tor fünf auf den Hinweis, dass die Männer ihren Kopf bedecken sollen. Erst am verlassensten Friedhofsteil erfährt man mehr. Dort, wo jene Christen und Konfessionslosen bestattet wurden, die trotz des Austritts aus der mosaischen Religionsgemeinde nach den Nürnberger Rassegesetzen als Juden galten.

800 Menschen wurden hier bestattet. Ein Gedenkstein des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit erinnert an sie: Auch daran, dass viele von ihnen ihrem Leben ein Ende setzten, um den Deportationen in die Vernichtungslager zu entgehen. Mitten auf dem jüdischen Friedhof sieht man Kreuze. Ein Grabstein trägt den Davidstern und das Kreuz.

Nur in Andeutungen wagte man, das Schicksal der Beerdigten zu umschreiben. „Ihr Herz brach fern der Heimat“, heißt es auf einer Tafel. Recherchiert man, dann war der Ort „fern der Heimat“ Auschwitz. „Unser heißgeliebtes Peterl“ liest man, oder ein bescheidenes „Flora“. Welches Schicksal mag sich hinter den Initialen „J P“ verbergen, und wer war es, der mitten auf dem jüdischen Friedhof unter einem ländlichen Holzkreuz bestattet wurde?

Nur von wenigen der hier Bestatteten kennen wir den Lebenslauf. Zum Beispiel von Jakob Altenberg. „Dem teuersten und edelsten Vater“ steht auf seinem Grabstein. Jakob Altenberg, geboren 1875 als Sohn von Moses und Sarah Altenberg, war gelernter Vergolder und wurde ein erfolgreicher Hersteller von Bilderrahmen.

1898 eröffnete er auf der Wiedner Hauptstraße sein erstes Geschäft. 1902 heiratete er die Mutter seiner Kinder und trat aus der Kultusgemeinde aus. Da sich leere Rahmen schlechter verkaufen ließen als solche mit Bildern, erwarb er Werke junger Künstler und begann, mit Kunst zu handeln. Besonders gut verkauften sich Straßenbilder, auch solche von gescheiterten Studenten. So auch die des Adolf Hitler.

Jakob Altenberg wurde ein Hauptabnehmer von Hitlers Bildern. Der Rahmenhändler und der Möchtegernkünstler scheinen einander von 1909 bis 1913 freundlich begegnet zu sein. 1936 sagt Altenberg, Hitler habe sich ihm gegenüber nie antisemitisch geäußert. Zwei Jahre später, im Jahr des Anschlusses, wurde er seiner Geschäfte beraubt. Unter den beschlagnahmten Bildern waren auch zwei von Adolf Hitler.

Die Ehe mit einer Christin bewahrte Altenberg vor der Deportation. 1944 starb er. Obwohl konfessionslos, wurde er aus „rassischen Gründen“ auf dem jüdischen Teil des Zentralfriedhofs begraben. Dort sehen wir bis heute den Grabstein von Hitlers Bilderkäufer.

Klio ist eine seltsame Muse: Sie kann selbst den vorweihnachtlichen Spaziergang auf einem verlassenen Friedhofsteil zum Krimi machen.

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Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001 Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2015)

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