Unser tägliches Brot gib uns heute, auf dass wir es wegwerfen können

Jedes Jahr bringen die Feiertage neue Spitzenwerte: Schätzungen zufolge landet allein in Österreich jährlich etwa eine Million Tonnen Lebensmittel im Abfall.

In einem Punkt waren die Pädagogen unerbittlich: Sie kontrollierten die Papierkübel in der Klasse. Nichts Verbotenes suchten sie darin, sondern etwas Nahrhaftes: Jausenbrote. Entdeckten sie eines, das wir weggeschmissen hatten, setzte es eine Kopfwäsche. Essen dürfe man nicht wegwerfen, bläuten sie uns ein.

Mag sein, dass der Hunger der Nachkriegsjahre ein Grund für ihre Strenge war. Mag sein, dass ein Hauch Religion dabei war: Das Brot als Gottesgeschenk, wie es die Bibel beschreibt. Lang nach der Schulzeit fand ich heraus, welche Aura das Brot auch im Arbeiterlied umgibt: „Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen: dass Brot und Arbeit uns gerüstet steh'n. Dass unsere Kinder in der Schule lernen und unsere Alten nicht mehr betteln geh'n.“

Das Brot war immer eine wichtige literarische Metapher. In der „Ilias“ wird es den Helden mit Andacht verteilt: „Als er nunmehr es gebraten und hin auf Borde geschüttet, teilte Patroklos das Brot in schön geflochtenen Körben rings um den Tisch, und das Fleisch verteilte selber Achilleus.“ Im Märchen finden Hänsel und Gretel ein Häuschen, das mit Brot gebaut und Lebkuchen gedeckt ist.

Werther verfällt seiner Angebeteten, als er sie beim Brotschneiden sieht: „Als ich in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. Lotte hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab.“ In „Gullivers Reisen“ zerteilen die sternenkundigen Laputier das Brot in der Form von Kegeln, Zylindern, Parallelogrammen und anderen mathematischen Figuren. Heinrich Heine reimte bissig: „Es wächst hienieden Brot genug für alle Menschenkinder, auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, und Zuckererbsen nicht minder.“

In allen Revolutionen verlangten die Massen nach Brot. Erhielten sie es? Büchners Danton sagt immerhin: „Ihr wollt Brot, und sie werfen euch die Köpfe der Aristokraten hin.“ Heute hungert ein Teil der Menschheit, der andere wirft Brot weg. In den Supermärkten müssen die Regale bis zum Schluss prall gefüllt sein, der Konsument will es so. Schätzungen ergeben, dass in Österreich etwa eine Million Tonnen Lebensmittel im Abfall landet. 100.000 werden vom Lebensmittelhandel weggeworfen, 250.000 von der Gastronomie, 300.000 Tonnen von den Haushalten. Dem gegenüber steht fast eine Million einkommensarmer Österreicherinnen und Österreicher.

Lebensmittel sind Wegwerfprodukte geworden. Schon bei ihrer Produktion werden Land, Wasser, Dünger, Energie und Arbeitskraft verschwendet: Da Obst nur fleckenlos in unsere Regale kommen darf, wird fast ein Drittel schon bei der Produktion vernichtet. Von dem, was beim Verbraucher anlangt, landen in Österreich pro Haushalt Nahrungsmittel um etwa 300 Euro pro Jahr im Restmüll.

Allein der Verein Wiener Tafel sammelt täglich bis zu drei Tonnen „überschüssige“ Lebensmittel und verteilt sie an etwa 10.000 armutsbetroffene Menschen – und schont damit die Umwelt, indem er Müllberge verringert.

Mehr als eine Milliarde Tonnen Lebensmittel pro Jahr gehen laut der UN-Welternährungsorganisation (FAO) verloren. Waffen kann man quer durch die Welt verschieben, ein sozialer Transfer von Lebensmitteln ist unmöglich. In Frankreich wurde soeben ein Gesetz beschlossen, wonach der Großhandel unverkaufte Nahrungsmittel nicht mehr wegwerfen darf. Ein Vorbild für Österreich? Hierzulande ist die Lebensmittelverschwendung eine politische Querschnittsmaterie, für die viele Ministerien zuständig wären. Man überlässt sie gern wohltätigen Organisationen.

Alle diese Zahlen und Fakten sollen uns nicht die Freude am Feiertagsessen verderben. Falls wir jedoch Skrupel haben, am Tag nach dem Fest Lebensmittel in den Müll zu werfen, sind die Lehrerinnen und Lehrer schuld. In der Schulzeit erschienen sie mir als pingelige Kontrollfreaks. Dabei haben sie nur versucht, uns Werte zu vermitteln.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001 Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2015)

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