Weißbuch Venedig: Die Tante Jolesch und Goethe hatten recht

Zwischen Österreich und Venedig herrscht eine Liebe. Und niemand hat der Lagunenstadt schönere literarische Denkmäler gesetzt als österreichische Dichter.

Zu einer Revolution ist es in Venedig nie gekommen. Keine Tuilerien wurden gestürmt, kein Winterpalais erobert, Bürgerkriege waren unbekannt. Die einzige große Verschwörung liegt Jahrhunderte zurück. 1310 wollte ein Tiepolo den Dogen stürzen und die Erbmonarchie errichten. Auf dem Markusplatz wurde gekämpft. Als sich die Verschwörer zurückzogen, warf eine tapfere Frau ihren Mörser auf den Fahnenträger der Aufständischen, die führerlos flüchteten. Die Verschwörer wurden verjagt oder hingerichtet. Das Relief der Frau mit dem Mörser finden Aufmerksame beim Uhrturm an der Mercerie.

Venedigs Patrizier trafen manche Fehlentscheidungen, in ihrem kommunalen Kapitalismus (auch der Ausdruck „capitalisti“ ist venezianischen Ursprungs), aber die Menschen lebten hier besser als anderswo. Bis zum Niedergang der Industrie im 18. Jahrhundert waren die Löhne der Handwerker gut und die Nahrungsmittel erschwinglich.

Die Dogen waren erfahren, meist älter als die Päpste ihrer Zeit und nicht selten asketische Staatsmänner. Sie behandelten ihre Untergebenen wie wankelmütige Kinder, die ihnen zum Schutz anvertraut waren. So wurde die Judengemeinde in Notzeiten zwar finanziell ausgequetscht, aber nie systematisch verfolgt. Das blieb den deutschen Besatzern im 20. Jahrhundert vorbehalten.

Fast alles, was die europäische Moderne ausmacht, wurde in Venedig entwickelt. Hier erschienen im 17. Jahrhundert die ersten Zeitungen. Die Diplomatie hat ihre Wurzeln in Venedig. Fernreisende und Händler mussten alles melden, was im Interesse der Stadt lag; die hielt es schriftlich fest. Bis heute kann man keine Geschichte Europas schreiben, ohne die venezianischen Archive zu kennen: Nur die des Vatikans sind umfangreicher.

Die moderne Geldwirtschaft entstand in Venedig. Mit Augenmaß. „Wer Geld hat, hat immer recht“, ist ein venezianisches Sprichwort. Aber man sagte auch: „Dem gefräßigen Vogel platzt der Kropf.“ Die Venezianer sind geborene Kaufleute. Philosophen, Dichter oder Künstler zu werden, reizte die in der Markusstadt Geborenen weniger. Florenz war da ein fruchtbarer Boden. Venedig aber zog unwiderstehlich aus anderen Regionen Kulturschaffende an. Diese machten die Stadt zu einem Monument einzigartiger Vielfalt.

Der österreichische Beitrag zur Geschichte Venedigs war, sieht man von der Eisenbahnbrücke ab, überschaubar. Die Bronzepferde wurden aus Paris nach San Marco rückgeführt. Die Konzerte österreichischer Militärkapellen auf dem Markusplatz waren beliebt. Am Schluss der Darbietungen rührten die Venezianerinnen und Venezianer keine Hand. Richard Wagner hat es beschrieben: Man applaudierte Besatzern nicht. Schließlich hatten die Österreicher gegen Venedig den ersten modernen Luftkrieg geführt. 1849 ließen sie Ballons mit Bomben gegen den Markusplatz treiben.

Der Schaden brach den Freiheitswillen der Stadt nicht. Bis heute kann man in der Nähe des Caffè Florian die verblassten Aufschriften „Viva Repubblica San Marco“ entziffern. Andenken an Habsburg in Form von Kanonenkugeln und Gewehrläufen wurden sorgsam bewahrt.

Die Österreicher hatten die venezianische Republik zerstört – und sie liebten Venedig. Schriftsteller von Peter Altenberg über Ingeborg Bachmann, Herzmanovsky-Orlando, Hofmannsthal, Kraus, Musil, Schnitzler, Trakl bis Zweig setzten der Stadt literarische Denkmäler. Die Toleranz, die Kultur und die Permissivität der Stadt übten auf sie einen Zauber aus. „Alle Städte sind gleich, nur Venedig is e bissele anders“, lautet die Liebeserklärung der Tante Jolesch.

In Venedig kommt es, wie in jedem Gemeinwesen, auf den Blickwinkel an. Sucht der Betrachter das Negative, findet er es und übersieht das Schöne und Gute. Goethe, auch er ein Besucher der Lagunenstadt, schrieb: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken.“ In Venedig wie hierzulande liegt es an unserem Blick, ob wir das Gute sehen oder auf das Abgründige starren wollen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2016)

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