In Tel Aviv und im Land Tirol: „Wir haben jetzt andere Probleme“

Sensibilität gegenüber Musikstücken mit „einschlägiger Vergangenheit“ ist verständlich und auch angebracht. Lächerlich aber sollte sie nicht werden.

Der Dizengoff-Platz liegt im Zentrum von Tel Aviv. Eigentlich ist er eher ein belebter Kreisverkehr. Ende der 1970er-Jahre hat man ihn überwölbt. Jetzt kann man oben auf einem Plateau sitzen und einen Blick auf das Straßenleben darunter werfen. Ein Künstler hat eine farbenfrohe Skulptur geschaffen, die sich auf dem Platz im Stundentakt zur Musik dreht.

Als ich vor zwei Wochen dort war, saßen Jung und Alt in der Sonne und lauschten den Melodien. Es war ein europäisches Wunschkonzert mitten in Israel: Populäre Stücke aus symphonischen Dichtungen, bekannte Ouvertüren und Ohrwürmer aus Opern. Manche kannte ich, manche nicht. Keinen Zweifel aber gab es bei der Melodie, die jede Stunde gespielt wurde: „Les Préludes“ von Liszt, eine Komposition, die mich im Konzertsaal traurig stimmt.

Es waren die Fanfarenstöße, die meinen Vater beim Überfall auf die Sowjetunion begleitet hatten. Geschickt hatte man sie für Sondermeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht angepasst, die zarte Einleitung weggelassen und die Pauken- und Trommelklänge verstärkt. Dennoch kann ich sie selbst in Originalfassung nicht genießen.

Als ich einem israelischen Gesprächspartner mein überraschendes „Les Préludes“-Erlebnis im Herzen Tel Avivs erzählte, meinte er: „Probably these guys don't know it.“ Wer „these guys“ sein könnten, ließ er offen.

Natürlich spielt man im Konzertsaal „Les Préludes“ nicht in der martialischen Wehrmachtsversion. Das Stück ist oft zu hören, so auch beim „Sommernachtskonzert in Schönbrunn“, einem Großereignis, das der ORF in viele Länder übertragen hat. Dirigent war Valery Gergiev, ein bekennender Freund des russischen Präsidenten: „Putin ist einmalig. Er interessiert sich für Kinderchöre und hat Zeit dafür!“ (Deutsche Welle, 16. 3. 2015). Der vielfach ausgezeichnete russische Künstler und Fahnenträger bei den Olympischen Spielen in Sotschi nahm an Liszts „Les Préludes“ keinen Anstoß.

Ganz offensichtlich unterscheidet ihn das von manchen Bewohnern des heiligen Landes Tirol. Dort sorgte vor einigen Wochen ein Imagefilm des Landes für einen lokalen Skandal. Spitze Ohren hatten vernommen, dass in der Filmmusik „Les Préludes“ vorkam und protestierten dagegen. Umgehend bedauerte das Land Tirol und zog den Film zurück. Immerhin könnten ja russische Winterurlauber feinere Ohren haben als Maestro Gergiev. Man kann nie wissen.

Nun ist Sensibilität gegenüber Musik angebracht. Ich verstehe, dass viele Israelis dem Verfasser der Schmähschrift „Das Judenthum in der Musik“ wenig Zuneigung entgegenbringen: Sie sehen das, was Wagner geschrieben hat, durch die leidvollen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Die Menschen im 19. Jahrhundert waren nachsichtiger. Theodor Herzl etwa. Er schrieb 1898: „Während der letzten zwei Monate meines Aufenthalts in Paris schrieb ich das Buch ,Der Judenstaat‘. Ich arbeitete an ihm täglich, bis ich ganz erschöpft war; meine einzige Erholung am Abend bestand darin, dass ich Wagnerscher Musik zuhörte, besonders dem ,Tannhäuser‘.“

Mit dem Vorspiel zum „Tannhäuser“ wurde auch der zweite zionistische Weltkongress eingeleitet. Franz Liszt jedoch war, im Gegensatz zu seinem Schwiegersohn, Rassismus fremd. Von einigen antijudaistischen Aussagen, die eine adelige Lebensgefährtin in seine Schriften eingefügt hatte, distanzierte er sich nachdrücklich.

Sollen wir also die Tiroler Angst vor „Les Préludes“ ernst nehmen? Wahrscheinlich ebenso wenig, wie wir vor Bruckners 7. Symphonie zurückschrecken müssen. Deren Adagio spielte der Deutsche Reichssender, nachdem man die Nachricht von Hitlers Tod bekannt gegeben hatte. Zurück nach Tel Aviv. Als ich meinem israelischen Freund alle musikalisch-historischen Überlegungen anvertraut hatte, meinte er nur: „Look, Kurt, I think we have other problems now.“ Was eine hervorragende Schlussbemerkung zur Tiroler Lächerlichkeit ist.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001 Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2016)

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