Falsche Worte, imposante Taten: Julius Tandler und kein Ende

Ein Historiker hat die eugenischen Schriften und die Reden des legendären Wiener Gesundheitsstadtrats im Gemeinderat akribisch erforscht und dokumentiert.

Am 3. Februar 1931 erschien in der „New York Times“ ein Artikel über Wien. Die Überschrift lautete „Students Beat Jews at Vienna University“. Ein weiterer Bericht unter dem Titel „Fascist Fight – Police at Vienna University“ folgte.

Was war geschehen? Anhänger des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds hatten die Alma Mater am Ring in eine Kampfzone verwandelt. „Die Ausschreitungen konzentrierten sich auf die Universität“, berichtete die „Neue Freie Presse“ am 4. Februar. Einige Hundert Hakenkreuz-Studenten, viele davon in Hitler-Uniform, hatten das Universitätsgebäude besetzt, schlugen mit Stöcken und Prügeln auf Polizisten ein und verweigerten Studenten, die ihnen missfielen, das Betreten des Gebäudes.

Aus zertrümmerten Anschlagkästen der Völkerbundliga, der jüdischen Mensa und sozialistischer Studenten wurde ein Scheiterhaufen gebildet und angezündet. „Die Nationalsozialisten mit Gummiknütteln bewaffnet“, ,„skandalöse Vorfälle und antisemitische Ausschreitungen“, meldete die „Neue Freie Presse“, ergänzt durch den Hinweis: „Professor Tandler hat seine Vorlesung nicht abgehalten.“

Das Institut des international renommierten Anatomen und Gesundheitspolitikers Julius Tandler in der Währinger Straße war seit 1920 Ort schwerster antisemitischer Ausschreitungen. Wohl kein österreichischer Universitätslehrer der vergangenen 100 Jahre ist länger und systematischer als Tandler terrorisiert worden.

1924 meldete die „Neue Freie Presse“, sonst dem Roten Wien nicht sehr gewogen, mit aufrichtigem Bedauern, dass der „hervorragende Anatom“ im Studienjahr 1924/25 keine Vorlesungen abhalten werde: „Die Gründe dafür sind unschwer zu erraten. Die Beliebtheit Tandlers hat nicht zu verhindern gemocht, dass seine Vorlesungen gestört und er sogar in seinem Laboratorium behelligt wurde. Der Gelehrte hatte es nur dem glücklichen Zufall zu verdanken, dass er persönlichen Insulten entging.“

Julius Tandler, Mitglied berühmtester Akademien, Berater des Völkerbunds, wesentlicher Gestalter des Wohlfahrtsstaats, konvertierter Jude, Freimaurer, Mitbegründer des Weltrufs der Wiener Medizinischen Schule, ist zu Recht eine Ikone der Sozialdemokratie. Er war aber kein aufgeschlagenes Buch, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch.

Seine eugenischen Beiträge liest man heute mit Entsetzen – und mit Verwunderung über den klaren Widerspruch zu den Taten, die er als Gesundheitspolitiker gesetzt hat. Derselbe Mediziner, der vor „Minusvarianten“ gewarnt und die Kosten für „lebensunwertes Leben“ vorgerechnet hatte, rief als Politiker flammend dazu auf, „im Interesse dieser unglücklichen Menschen zusammenzuarbeiten“ und „in aller Not und Armut Ungeheures für unsere Kranken und Elenden zu leisten“. Ihm gelang es, dass das Sozialbudget des hungernden Wien verdoppelt wurde.

Ein junger Historiker hat es in jahrelanger Arbeit auf sich genommen, akribisch alles zu untersuchen, was Julius Tandler in medizinischen Schriften zu eugenischen Fragen geschrieben hat und was er im Wiener Gemeinderat gesagt, getan und an Hass erduldet hat.

Autor Peter Schwarz ist kein unbeschriebenes Blatt: Erst vor wenigen Jahren hat er gemeinsam mit Wolfgang Neugebauer die Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Integration ehemaliger Nationalsozialisten offengelegt und der Sozialdemokratie einen Spiegel vorgehalten. Sehr karrierefördernd war das nicht. Nun hat er seine Forschungen zu Julius Tandler abgeschlossen und im Alleingang das geleistet, was die Stadt Wien seit Jahrzehnten unterlassen hat.

Der Wissenschaftler Peter Schwarz ist im Wiener Telefonbuch oder über seinen Verlag zu finden. Wer immer sachlich über Tandler diskutieren will, kann ihn kontaktieren. Medizinerinnen und Mediziner, politische Akademien, Universitäten, Geschichtsvereine, Volkshochschulen, Parteien und Bildungsorganisationen sind herzlich dazu eingeladen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2016)

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