Celans „Todesfuge“: Reflexionen über eine Stunde im Parlament

Was immer in- und ausländische Medien dieser Tage über das Geschehen in Österreich berichten: Die heimische Politik kennt auch Anstand, Ernst und Würde.

Es war einer jener Anlässe, bei denen man den anwesenden Politikerinnen und Politikern Anerkennung zollen musste. Der Vorsitzende des Bundesrates hatte im alten Reichsratssitzungssaal sehr persönlich der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Nach ihm benannte die Nationalratspräsidentin die Mitschuld vieler, das Leid Hunderttausender Unschuldiger und das rasch einsetzende Schweigen nach der Befreiung.

Es waren schnörkellose Reden ohne Wenn und Aber. Niemand versuchte, aus dem Buch der Geschichte Seiten zu entfernen. Die ausländischen Gäste schienen beeindruckt. Der Höhepunkt aber war der künstlerische Teil: Anne Bennent las die „Todesfuge“ von Paul Celan. Zwar betonte sie den Namen des Dichters auf der zweiten Silbe, aber ihr Vortrag war eindrucksvoll. Die vor mir sitzenden Schülerinnen und Schüler hörten aufmerksam zu. Es schien, dass sie vorbereitet waren und das Gedicht verstanden.

Welch' ein Unterschied zu früher ist das! Ich saß als Schüler in der 6. Klasse, als ich zum ersten Mal die „Todesfuge“ gehört habe. In den angeblich so bleiernen Jahren des allgemeinen Verdrängens und Vergessens wurde sie am „Tag der Fahne“ im Schulfunk gesendet. „Den wehrlosen Insassen der nationalsozialistischen Vernichtungslager“, hörten wir, „ist dieses berühmte Gedicht gewidmet.“ „Schwarze Milch der Frühe . . .“, erklang aus dem Radio. „Wir schaufeln ein Grab in den Lüften [. . .] Der Tod ist ein Meister aus Deutschland [. . .] Dein goldenes Haar Margarete – dein aschenes Haar Sulamith“.

Leider hatte der Stundenplan auf den Sendetermin keine Rücksicht genommen. So hörten wir Celans Totenklage und die Einleitung von Gerhard Fritsch in der Geografiestunde. Der Professor wirkte unschlüssig. Er war streng, aber nicht unbeliebt. Man konnte bei ihm schwätzen: Er sah nur auf einem Auge. Das zweite hatte er als Fallschirmjäger in Kreta verloren. Zögernd meinte er nach der Sendung: „Schwarze Milch – kann das verdorbene Milch sein? Oder dünner Ersatzkaffee?“ Heute weiß ich, dass er mit seiner Ratlosigkeit nicht allein dastand. Auch die damaligen Kritiker wussten wenig von Celans Familiengeschichte: Seiner Mutter, die die deutsche Dichtung liebte und von einem Deutschen ermordet wurde, dem Tod seines Vaters und von Celans Jahren in einem Arbeitslager.

Unser kriegsversehrter Geografielehrer war nicht klüger als die Literaten der „Gruppe 47“. Ihnen hatte Celan seine Totenklage, die ursprünglich Todestango hieß, vorgetragen. Walter Jens hielt die Reaktionen fest. „Das kann doch kaum jemand hören“, habe der eine gesagt, „der liest ja wie Goebbels“ ein anderer. „Ein Singsang“, sei es gewesen, und Hans Weigel beklagte, dass „am nächsten Morgen einige Kollegen höhnisch ,Schwarze Milch der Frühe . . .‘ vor sich her skandierten“.

Paul Celan spürte das Unverständnis seiner Dichterkollegen. Sie übersahen den Hintergrund der Todesfuge ebenso wie die Tatsache, dass er selbst nur mit Glück überlebt hatte. Später weigerte er sich dann, das Gedicht öffentlich vorzutragen.

Wir konnten es 1964 im Schulfunk hören. Dass wir das ausgerechnet der Zusammenarbeit zwischen dem Kurzzeit-Kommunisten Gerhard Fritsch, der den „Tag der Fahne“ inhaltlich betreute, und dem CVer, Gestapo-Häftling und späteren Hörfunkdirektor Alfons Übelhör verdankten, ist eines der Paradoxa der Zweiten Republik.

Ein halbes Jahrhundert später ist Celans „Todesfuge“ fester Bestandteil der Gedenkkultur. Doch hilft die Erinnerung? Lernen die Menschen aus der Geschichte? Ja, wenn sie wollen. Die Regierungen nach 1945 sind aus dem Scheitern der Ersten Republik klüger geworden. Auch im Verlauf der Zweiten Republik gab es Lernprozesse. Die Absage der Parlamentspräsidentin an einen alles entschuldigenden Opferbegriff, Celans Gedicht und die Standing Ovations aller Fraktionen für die Rede eines KZ-Überlebenden zeugen vom Willen, aus der Vergangenheit zu lernen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2016)

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