Ideen können versteinerte Verhältnisse zum Tanzen bringen

Ein italienischer Wien-Besucher formulierte einst die Theorie von der kulturellen Hegemonie. Sein Denken erlebt gerade eine Renaissance in Europa.

Auf dem Foto wirkt seine Gestalt wie die eines Kindes. Höchstens 1,50 m maß er, und er steht so, dass man seinen verkrümmten Rücken nicht sieht. Weit musste er nicht gehen bis zur Votivkirche, wo das Bild entstand. Er wohnte als Untermieter in der Florianigasse. Zu Wien fand er keinen Bezug, Moskau erschien ihm schöner. Was tat der lachende, bucklige Mann vor der Kirche?

Antonio Gramsci war einer der fruchtbarsten politischen Denker des 20. Jahrhunderts. Seine Theorien haben die Gefängnisaufenthalte im faschistischen Italien und seinen frühen Tod überdauert. Bei Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien erleben sie einen neuen Frühling. Irgendwie sind sie auch für die österreichische Gegenwart interessant.

Gramsci hat immer wieder davor gewarnt, Politik als bloße Machttechnik zu sehen. Erfolgreiches Regieren brauche eine „kulturelle Hegemonie“: die gedankliche Vorbereitung dessen, was in der Folge durch pragmatisches Handeln umgesetzt werden soll. So wie Politik ohne Macht bloße Sentimentalität sei, sinke Macht ohne spürbare Ideale zur Überlebenstechnik herab, werde hohl, lächerlich und unglaubwürdig. Politisches Handeln müsse durch intellektuelle Perspektiven vorbereitet werden. Nur dann würde es die Menschen überzeugen.

Auch in Österreich haben Persönlichkeiten kulturelle Hegemonien hergestellt. Als Kreisky im Mai 1970 Leonard Bernstein und die Wiener Philharmoniker einlud, seinen ersten Parteitag als Bundeskanzler mit einer Mahler-Symphonie zu eröffnen, war das nicht nur ein Vorspiel für Funktionäre: Es war das Rufzeichen einer neuen Kultur. Die schulpolitischen Vorstellungen des unterschätzten Fred Sinowatz entwarfen das Panorama einer von Mitbestimmung, Transparenz und mehr Bildungsgerechtigkeit erfüllten Schulreform.

Der Arbeiterführer Anton Benya überwand mit der Einladung von Kardinal König zu einem Gewerkschaftskongress demonstrativ alte Gräben: Die Beschlüsse des Kongresses sind vergessen, das Bild des Kardinals mit den Gewerkschaftern aber blieb. Ausgerechnet der Finanzfachmann Franz Vranitzky setzte ein neues Geschichtsverständnis durch: Seine Entschuldigung im Nationalrat 1991 und zwei Jahre später in Jerusalem veränderte die Erinnerungskultur der Zweiten Republik. Andreas Khol verhandelte als Nationalratspräsident während der ÖVP-FPÖ-Regierung mit Ariel Muzicant mehr als Kompensationen für geraubte Vermögen. Ihm gelang es, den Vorwurf eines latenten katholischen Antijudaismus durch das Bild einer gemeinsamen jüdisch-christlichen Tradition zu ersetzen. Es hält bis heute.

Die steirische Politik war immer Gamsbart und Gegenwartskunst. Hatte Unterrichtsminister Piffl 1968 bei der Rede von Thomas Bernhard noch den Festsaal verlassen, initiierte Hanns Koren den Steirischen Herbst. Waltraud Klasnic überreichte Elfriede Jelinek den Manuskripte-Preis des Landes Steiermark. Josef Ostermayer konnte den Ortstafelstreit lösen, weil er nicht nur über Prozentzahlen feilschte, sondern die gesamte Frage glaubwürdig als Bringschuld präsentierte.

Politik ohne kulturelle Zeichensetzungen hinterlässt ein geistiges Vakuum. Das füllen andere. Die Parteien haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit Ab- und Ausgrenzungsfragen beschäftigt. Für eigene Markenzeichen blieb wenig Zeit. Was Gramsci einst als kulturelle Hegemonie bezeichnet hat, ist in wichtigen Bereichen von der Regierung auf die Opposition übergegangen.

Der kleine Sarde, der 1923/24 in der Florianigasse 5 wohnte, wurde nicht müde, für die Politik nicht nur eine Machtstrategie, sondern ein Menschenbild zu entwerfen. Schwer krank kritzelte er in eines seiner letzten Gefängnishefte: „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmen Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern: Pessimismus des Denkens und Optimismus des Willens!“

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2016)

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